DER AST, AUF DEM WIR SITZEN VOM REICHTUM EINES \"ARMEN\" MEDIUMS

01.03.2015

Schon in den Vierziger Jahren nannte Orson Welles den Rundfunk, der sein Türöffner gewesen war, im Gespräch mit Peter Bogdanovich "an abandoned mine – a victime of technological restlessness". Kurz "another anachronism".  Aber, wie sich herausstellt, hat "das Radio" einen langen Atem. Wir schreiben in diesen Blogs natürlich von unserem Radio und nicht von der kurzatmigen Zeitvernichtungsmaschine mit den "Besten Hits der Siebziger und Achtziger Jahre".  Ich wäre allerdings naiv, einzig dem Großen Format – dem tradierten "öffentlich-rechtlichen" Feature und Hörspiel – eine Zukunft zuzutrauen. Hier gilt kein Entweder / Oder. Schon ehe Angela Merkel davon Notiz nahm, war das weltweite Netz eine Elementarerscheinung wie das Wetter.  Können wir den Regen ignorieren, den Frost verbieten?   Ich z. B. nutze dieses http://www als Werkzeug und Steinbruch – noch emphatischer gesagt: als mein Werkzeug, meinen Steinbruch, mein Lexikon, mein Soundarchiv. Ich bin kein Netzmuffel, wie mein abtrünniger Freund vermutet. "Additional or complementary information can be shared via the Internet as a medium by itself. But this is not what we are talking about", sagte mein österreichischer Kollege Richard Goll bei einer Leipziger Konferenz über die Zukunft des Radiofeatures. Nein, wir reden hier nicht von den "Segnungen" des Internet. Die Loblieder sind ausgesungen: "I can record audio, edit it and make it available directly from my mobile phone – a remarkable tool for getting the audiences' voice on air with a single tap" – Zitat aus der erwähnten Leipziger Zusammenkunft. Die Welt als Spielkonsole ... Deine Begeisterung über die digitalen Werk- und Spielzeuge, lieber fahnenflüchtiger Ex-Kollege, kann und will ich Dir nicht verderben. Als ungeduldiger user, der sich seinen content am liebsten à la cart aus dem Netz-Universum zusammenstellt, bist Du für das Erzählmedium Radio ohnehin verloren (Von Teilnehmern der letzten Internationalen Feature-Konferenz 2014 wurde – ungelogen ! – die "Visualisierung des Radios" diskutiert).  Verglichen mit Deiner bunten Pop-up-Welt ist das Radio ein "armes" Medium. Es abstrahiert von der Wirklichkeit, indem es einen unserer Hauptsinne nicht in Anspruch nimmt. Die Krawatte des Erzählers interessiert nicht. Ebenso wenig lenkt uns der Pickel auf der Nase des Soldaten im Radio-Feature über den Abzug der Bundeswehr aus Masar-e-Scharif vom eigentlichen Thema ab; der Mann ist nichts als Soldat, ist alle Soldaten. Ein Archetypus. Jeder "Verlust" kann ein Gewinn sein. Die Musik verzichtet auf Wort und Bild, Tanz und Pantomime auf das gesprochene Wort, die Literatur auf Stimme, Bild und Bewegung. Für mich bleibt die IDEE des Radios vital – unabhängig von den Plattformen, die es zur Verbreitung nutzt. Das Medium ist nicht die Botschaft. Nachdenken über fundamentale Dinge verläuft weiterhin analog, linear und in real time. Erzählen auch ! 
Im Gegensatz zu den Foren im Netz, die du als Beispiel zeitgemäßer Kommunikation anführst, lieber N., ist der einzelne Autor nahezu allmächtig. Er allein hat die Macht des "Apparats" und der Zeit. Er verlangt Aufmerksamkeit wie Onkel Leopold beim Dia-Abend über seine letzte Kreuzfahrt. Ist halt so ! 
Dramaturgisch erzählen heißt vor anderen einen Grundgedanken, einen Tatbestand, vielleicht ein Drama über die Dauer einer vorgegebenen Zeit zu entfalten – in unserem Fach die gedankliche und emotionale Entwicklung einer Geschichte, die sich nicht nur in Worten sondern auch im Sound, in akustischen Bögen, in Stimmen und Sprechhaltungen ausdrückt. Subjektivität ist kein Makel sondern die Stärke unseres Mediums. Schreiben als Autor heißt auch: Erzählen über sich selbst. Auch wenn ich einen Film über einen Hund oder einen Stuhl machen müsste, würde er in gewisser Hinsicht immer autobiographisch (Federico Fellini). Solche Nabelschau kann kreuzlangweilig sein (Onkel Leopold !), aber auch spannend und erhellend, wenn sie über den Rand der eigenen Person ins Exemplarische hinausgreift. Der Schriftsteller Horst Krüger (1919 – 1999) war einer der erfolgreichsten Feature-Autoren, obwohl er nie ein Aufnahmegerät benutzte. Der 1966 erschienene Roman "Das zerbrochene Haus" über seine Jugend in Deutschland während der Nazi-Diktatur war nichts als Text und doch ein Radioserien-Renner.  Krüger las selbst. Er war kein ausgebildeter Sprecher. Eine gewisse Monotonie, ein leichter Sprachfehler – und doch "hingen", wie es heißt, "die Hörer an den Lautsprechern". "Damals wurde im Rundfunk noch erzählt", schrieb die "ZEIT" in einem Nachruf. Zeitgleich mit Krügers Buch erschien "In cold Blood", Truman Capotes "wahrheitsgemäßer Bericht über einen mehrfachen Mord", unter dem Titel "Kaltblütig" auf Deutsch und machte den "New Journalism" auch hierzulande bekannt. Dieser literarische Reportagenstil, denke ich manchmal, könnte auch für unser Radiofach wiederentdeckt werden, erweitert um die Klangfarben-Palette  des Originaltons. Das Feature hat sich aus der trüben Alltagsroutine professioneller Faktenvermittlung freigeschwommen, hat die auktoriale So-ist-die-Welt-Haltung aufgegeben, hat die Schönheit der Klangwelt entdeckt, kann Literatur sein. Ich sehe Dein überlegenes Lächeln, lieber digitaler Freund. Sicher wirst Du dem Science-Fiction-Autor Bruce Sterling Recht geben, den ich in meinem Buch zitiere: "Früher gab es die literarisch-historische Erzählung, heute gibt es die kollektive Intelligenz ... Lineare Erzählungen mit Anfang und Ende sind nichts, was die Netzkultur interessiert".  Interessiert mich die "Netzkultur" ? Gerade die Verbindung von thematischem Gewicht, Gedankenreichtum und akustischer Brillanz bei der Umsetzung ist unsere Trumpfkarte im Medienwettstreit. Warum sollten wir darauf verzichten ? So ein Fach stellt man nicht ein wie eine Zeitung. Es in die Tonne zu treten hieße nach Orson Welles "giving up all watercolors because somebody invented oil paint". Für die Reise in die ungewisse Zukunft habe ich ein handliches Überlebenspaket entworfen.  Es enthält: 1 Thema von mittelfristiger Brisanz; wenigstens 1 mutige These; 1 Story with teeth, wie die Angelsachsen sagen; 1 gute Dosis unverwechselbarer Klänge und erzählerischer Energie; 1 gedankenreichen, schlackenlosen Text. Und alles eingepasst in eine perfekt sitzende dramaturgische Form.   Uns allen bon voyage !
 

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