Früher war alles nicht besser

17.11.2015

Jedes neue Medium weckt bei den Bisherigen Existenzängste. Das ist seit Jahrhunderten so. Der Buchdruck, wussten die Mönche des Mittelalters, würde die prachtvollen Manuskripte hinwegraffen. Die Zeitung macht dem Buch den Garaus, hiess es später. Das Radio zerstört die Zeitung. Video killed the Radio Star. Und das Web macht sie gleich alle zusammen kaputt.

Der Mensch scheint einen unstillbaren Drang zum Apokalyptischen zu haben. Nichts davon ist je eingetroffen. Jedes Medium hat seinen Vorläufern zwar einen Dämpfer versetzt, doch Bücher, Zeitungen, Radio und Fernsehen haben ihre Berechtigung behalten. Die wohlfeile Endzeitstimmung kaschiert schiere Nostalgie: Wir haben noch miteinander gesprochen, statt aufs Handy zu glotzen. Wir haben noch Zeitungen und Bücher gelesen. Früher war alles besser. Und so weiter und so falsch.

Medien zerstören Medien nicht. Das memento mori, jenes düstere Leitmotiv des Barock, gilt nicht für Medien, sondern allenfalls für Formate. Dass wir der gedruckten Zeitungsreportage einen höheren Wert beimessen als einem Blog, liegt nicht an ihrer medialen Überlegenheit, sondern vielmehr an unserer Erwartungshaltung, an unserer Medienbiografie.

Jede journalistische Form ist zuallererst geprägt von den technischen Möglichkeit ihrer Verbreitung. Solange der Druck nur die beweglichen Lettern kannte, blieben die Bücher eben bilderlos - nicht weil das Bild den Text zur Trivialität verdammt hätte, sondern weil man es ganz einfach nicht reproduzieren konnte. Das gilt auch fürs Radio. Radio hat nur deswegen kein Bild, weil es aus einer Zeit stammt, die Bilder nicht zu übertragen vermochte. Radio ist deshalb bildlose Tonkunst, weil wir in neun Jahrzehnten gelernt haben, den Bildermangel qua Vorstellungskraft zu kompensieren.

Das soll den Wert des Radios, dieses fantastischen Kinos im Kopf, in keinster Weise schmälern. Aber es bedeutet, dass unser Streben, Radio ins Web zu verfrachten, unsinnig sind. Radio ist Radio. Statt über die zerstörerische Bilderflut zu lamentieren, sollten wir Radiomenschen vielmehr nach frischen, unverbrauchten Formen suchen - Formen fernab von Fernsehen und Videoclip, Formen, die dem Bild und dem Ton den Raum geben, der ihnen gebührt. Was dabei herauskommt, mag am Ende Multimediareportage oder Web Documentary heissen, doch entscheidend ist: Das Web ist ein Anfang, wie es vor 90 Jahren das Radio war.

Was da vor unseren Ohren entsteht, ist eine Medienwelt der unbegrenzten Möglichkeiten. Und weil das Web Bild und Ton gleichermassen liebt, ist es an uns, den Tonkünstlerinnen und Radioenthusiasten, den Klang der neuen Welt nicht den Stümpern zu überlassen.

Thomas Weibel

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