Klaus Schönberger

Erfundene Revolutionen

Klaus Schönberger Radiohören: Erfundene Revolutionen oder so viel „Ende“ war noch nie. Können Sie es auch schon nicht mehr hören? Im Zuge von medientechnischen Innovationen wird uns ständig die Revolution oder als Kehrseite der Medaille das Ende dieses oder jenes Mediums verkündet. Seit Marshall McLuhans Behauptung vom Ende des Buchzeitalters in den 1960er Jahren werden wir in regelmäßigen Intervallen mit dem Ende von irgendetwas konfrontiert. „Video killed the radiostar“ lautete der Popsong der Buggles, der als Videoclip am 1. August 1981 den Start des us-amerikanischen Musikfernsehsenders MTV einläutete. Es wurde nicht nur ein neues Medienformat der Populärkultur gefeiert, sondern zugleich auch programmatisch der Untergang des Radios erklärt. Mit dem Internet verkürzten sich die Zyklen zwischen diesen „Enden“ und heute sind wir Zeuge vom behaupteten „Ende“ von immer mehr Medienformaten, mitunter sogar alter Kulturtechniken wie dem Lesen oder Schreiben. Wahlweise sind es der Brief oder die Postkarte, die angeblich ihre Bedeutung und Funktion verloren haben. Mit dem Aufkommen der Blogger geriet insbesondere in den Printmedien selbst das Ende des Journalismus zum Debattenthema. Als jüngste Entwicklung kündigte die Zeitschrift Wired das Ende des Telefonanrufes an. Der Verlauf der Geschichte der behaupteten Medieninnovationen ist vor dem Hintergrund ihrer Prognosen allerdings ernüchternd. Allen Abgesängen zum Trotz gibt es beispielsweise mehr Bücher und es wird mehr geschrieben als je zuvor. In diesem Zusammenhang sei an das in den Medienwissenschaften bekannte Rieplsche Gesetz aus dem Jahr 1913 erinnert: Es besagt, dass einmal für brauchbar befundene Medien niemals wieder gänzlich und dauerhaft verdrängt werden. Vielmehr bleiben sie neben den neuen Medien bestehen. Sie übernehmen aber oft andere Aufgaben und verändern teilweise ihre Funktionen. Auch das Radio hat seine Position behaupten können. Wenn wir uns die jüngere Entwicklung des Radios anschauen, erfolgt auf der technischen Ebene eher eine Ausweitung der Sendemöglichkeiten. Die analogen terrestrischen Angebote von Radioprogrammen können in digitalisierter Form via Internet auf immer mehr technischen Plattformen angeboten und abgerufen werden. – sei es nun via iPad, iPod, Handy, Laptop, PC oder speziellem Internetradiogerät. Zugleich lassen sich zahlreiche Radioprogramme, insbesondere Informationsprogramme auf den Webseiten der Sender nachhören. Diese Erweiterung der Sende- und Empfangsmöglichkeiten wirft allerdings die Frage auf, ob es angesichts dieser Medienkonvergenz überhaupt noch eines zeitgebundenen Radioprogramms bedarf. Es wird behauptet, dass mit dieser technischen Entwicklung das Ende des klassischen Nebenbei-Radios und im Kielwasser des Social Web ein Paradigmenwechsel zum partizipativen Radio der aktiven Hörer begonnen hat. Diese Prognose vom zeitsouveränen Radiohören geht davon aus, dass sich das Radio via Internet zu einem Abrufmedium wandelt. Da viele Sendungen zeitunabhängig gehört werden können, so die Verfechter dieser Prognose, habe sich der Bedarf nach einem Live-Radio erledigt. Man könnte meinen: So viel Ende war noch nie. Wer jedoch die Medienformate innerhalb wie außerhalb des Internet nur in einer solch technikdeterministischen Perspektive betrachtet, ignoriert den Zusammenhang zwischen technischen Möglichkeiten, den Lebensführungskonzepten der Hörerinnen und Hörer und den mit ihnen verbundenen soziokulturellen Praktiken. Die Beantwortung der Frage nach der Zukunft eines zeitgebundenen Radioprogramms lässt sich nicht hinreichend über die bloße Verfügbarkeit neuer zusätzlicher zeitungebundener Angebote vornehmen. Die Akzeptanz und Nutzung beider Versionen des Radiohörens ergibt sich aus sozial, politisch und kulturell sehr unterschiedlichen Anforderungen, Bedürfnissen und Begehrensstrukturen. Und eben nicht allein aus den technischen Vorgaben. Wenn wir die Zahlen der ARD/ZDF-Online-Studien 2010 verfolgen, ist der Anteil derjenigen, die tatsächlich selbst aktiv werden und eigene Inhalte einstellen im Vergleich zum darüber vernehmbaren Medienrauschen sehr gering. Nehmen wir das Medienformat, das mit der geringsten Schwellenangst besetzt ist: Gerade mal acht Prozent der Youtube-Nutzer haben selbst ein Video eingestellt. Aber auch diejenigen, die das Radio zeitsouverän nutzen, möchten beim Frühstück in aller Herrgottsfrühe nicht auswählen müssen. Auch haben sie meist bereits entschieden, welchen Sender oder welches Musikprogramm sie beim Autofahren hören wollen. Die Komprimierung und die Auswahl, die im Programm der Radios stattfinden, sind eine mögliche und immer noch nachgefragte Begegnung mit der Welt. Außerdem: Im Alltag fehlen Zeit und Kraft permanent redaktionelle Entscheidungen zu treffen . Es sind die Verkehrsmeldungen, die die Hörerinnen und Hörer nach wie vor benötigen, wenn sie zwischen Karlsruhe und Stuttgart hin- und herfahren. Und ob der VFB Stuttgart endlich wieder besser spielt, gilt es ebenfalls unmittelbar am Samstagnachmittag in „Heute im Stadion“ live zu erfahren. In der aufgewühlten baden-württembergischen Landeshauptstadt möchten Stuttgart 21-Befürworter wie -Gegner nicht erst später nach-hören wie die Schlichtungsverhandlungen vorankommen. Die Zukunft des Radioprogramms hängt viel weniger von der technischen Entwicklung ab als gemeinhin behauptet wird. Das meint: Wir erfahren viel mehr über die Art wie wir künftig Radio hören, wenn wir nicht nur nach der technischen Entwicklung fragen, sondern vor allem untersuchen, wie sich die Konzepte alltäglicher Lebensführung verändern oder auch bestehen bleiben: In welcher Weise künftig Arbeit und Freizeit getrennt oder nicht mehr getrennt sind, welche Gesellungsformen sich ausbilden. Ob wir in einer Familie leben, in den Sportverein gehen oder ins Fitness-Studio. Wenn Sie also das nächste Mal vom Ende von irgend etwas hören oder lesen wie neue Medien unseren Alltag revolutionieren, dann wissen Sie, daß die Frage auch anders gestellt werden kann. Nämlich inwiefern und bei wem neue Medien das Bestehende unterstützen und fortschreiben helfen.

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