Offen ? - Immer noch offen !

Neben den aberhundert Radiostationen, die rund um die Uhr nur Musik senden,  gibt es einige Kanäle, die auf besondere Wünsche und Bedürfnisse einer bestimmten Hörerschaft eingehen. Vom „Polizeiradio“ war schon die Rede. Daneben gibt es In Istanbul Sender, die sich zum Beispiel auf Verkehrsmeldungen spezialisiert haben. Da wird nicht ab und an die Musik unterbrochen, um Verkehrsstaus zu melden, sondern die Meldungen über Verkehrsstaus werden ab und an durch Musik unterbrochen - wenn dazu Zeit bleibt, und Zeit für Musik bleibt selten.

Da man problemlos 200 km durch die Innenstadt fahren kann, und allein in der Stadt jeden Tag mehr zwischen 600 und 1000 neue Fahrzeuge auf den Straßen unterwegs sind und die Behörden täglich gut 14 Mio Autofahrten in Istanbul schätzen, hat so ein Sender genug zu berichten - und eine stabile Hörerschaft. Die Verkehrsämter der Stadt wollen schon errechnet haben, dass man zur Zeit für eine Strecke, die man unter ‚normalen‘ Umständen in 29 Minuten mit dem Auto zurücklegen kann, in Istanbul rund 100 Minuten benötigt. Um diese Zeit doch noch irgendwie etwas abzukürzen, hören selbstverständlich alle rund 20 tsd Taxifahrer diesen Sender. Außerdem hören die 20 tsd Fahrer zu, die ohne Lizenz ein illegales Taxi betreiben - und natürlich viele, die irgendwie gezwungen ist, mit dem Auto von A nach B zu kommen.

Ein Sender der ungewöhnlichen Art, vor allem für die Türkei, ist das „Acik Radyo“, das offene Radio. Es ist wohl das einzige „Genossenschaftsradio“ am Bosporus - und das ist genauso ungewöhnlich, wie das Programm dieses  Senders. Einst gründeten 92 Teilhaber diesen Sender, in einer Zeit, den man auch heute noch die ‚dunklen Tage der Türkei‘ nennt, weil der Krieg zwischen den Sicherheitskräften und der PKK besonders hässlich wütete,Im November1995 ging das Acik Radyo zum ersten Mal auf Sendung. Seither ist es eine Radiostationen die man - ja wie charakterisieren soll? Die Radiomacher meinen in einem eigens verfassten „Manifest“:Wir gehören keiner Holding oder einem Wirtschaftsunternehmen  - für uns sind nur die Werte der Demokratie, die Unabhängigkeit der Justiz und die grundlegenden Menschenrechte verbindlich. Darüber hinaus bekennen wir uns zu keiner „Weltanschauung“ - und natürlich sind wir auch vom Staat unabhängig.  Man könnte uns auch einen der wenigen unabhängigen Radiosender in der Türkei oder gar weltweit nennen, der eben nicht unter der Last des großen Geldes erstickt.

Große Worte !  - aber das Programm versucht, nicht allzu weit hinter dem Anspruch zurück zu bleiben. So hört man Beiträge, die man auf einem türkischen Radiosender nicht erwarten würde: Da kommentiert einer der Programmmacher die Regierung unter der Überschrift: Wie ein sowieso autoritäres Regime noch autoritärer wird. Es wird eingehend über den Widerstand der Bevölkerung ganz weit im Osten des Landes berichtet, der sich gegen ein Bergwerk in ihrer Region und die befürchteten Umweltschäden richtet. Eine groß angelegte Dokumentation erzählt über ein Pogrom im Jahr 1955 gegen Minderheiten in Istanbul, vor allem gegen die griechische Gemeinde. Damals plünderte der Mob tausende Geschäfte der Minderheiten, zündete Kirchen an und vergewaltigte Frauen und Mädchen der griechischen Gemeinde. Ein anderes Programm: Der Chefredakteur einer Zeitung (Evrensel), die von der Regierung verboten werden soll, kann in einem ausführlichen Interview über die Lage der Journalisten und die Pressefreiheit in der Türkei berichten. Natürlich zieht der ordentlich vom Leder und man fragt sich unwillkürlich: Wieso kann sowas noch gesendet werden? Dann wieder telefoniert eine Programmmacherin mit einer Umweltschützerin in Amerika mehr als 10 Minuten lang - die Leitung ist nicht störungsfrei, die Tonqualität schlecht und obendrein wird das ganze Gespräch auch noch ohne jede Übersetzung auf englisch geführt, und man fragt sich unwillkürlich: Wer versteht das?

Trotzdem: Wer in Istanbul über Radio redet, der sprich auch sofort über Acik Radyo. 
Gesendet wird in der Region Istanbul, 7 Tage die Woche, rund um die Uhr. Gut ein Drittel der Sendezeit wird mit solchen Interviews, Dokumentationen, Reportagen und Kommentaren gefüllt. Das Studio ist einem freien Kulturzentrum untergebracht, die Technik ist anspruchsvoll, noch gibt es finanzstarke Sponsoren. Die meisten Macher des Programms sind „freie“ Mitarbeiter. Pro Woche sitzen gut 200 von ihnen vor dem Mikrofon und gestalten etwa 150 verschiedene Sendungen. Frei sind diese Mitarbeiter auch von jedem Honorar, fast alle arbeiten ehrenamtlich - und etliche gestalten auch selbständig den Musikteil der Sendungen. Also hört man kurdische Musik, Country-Songs aus den USA der 50iger Jahre, Free-Jazz, experimentelle Musik, Heavy Metal oder Klänge eines religiösen Ordens aus dem Mittelalter in Anatolien.

Finanziert wird der Sender über Einlagen der Gesellschafter, über Spenden und Werbung. Und wer wirbt da, wer spendet? Die Linken? Nicht im mindesten. Da wirbt ein Konzern wie BEKO, der auch in Deutschland Kühlschränke und Waschmaschinen verkauft, oder eine Bank wie die IS Bankasi, ein Geldinstitut, das der Regierung nahesteht. Und ab und an dankt ein Sprecher der halbstaatliche Stiftung für Erziehung und Bildung für eine Spende.

Wieso? Die Frage ist genauso vernünftig wie die, wieso diese Radiostation immer noch senden darf, während etliche Journalisten des Landes im Gefängnis sitzen. Widersprüche muss man am Bosporus aushalten. Und einige sagen, Acik Radyo ist noch auf Sendung, weil seine Zuhörerschaft doch nicht so groß ist. Genaueres ist nicht bekannt, aber es könnte sein, dass Acik Radyo darin dem Fernsehsender ARTE ähnelt: Alle reden davon, die Kritiker finden ihn toll, aber die Einschaltquote ….