Viktor Orbán am Freitag morgen

Die getarnte Radioansprache

Es gibt einen spannenden wöchentlichen Sendetiefpunkt im staatlichen ungarischen Rundfunk, der zugleich paradoxerweise jedesmal einen hohen Nachrichtenwert hat. Er beginnt immer am Freitagmorgen um 7.34 Uhr in der Nachrichtensendung „180 perc“ (180 Minuten) auf Kossuth Rádió, gleich im Anschluss an die Kurznachrichten zur halben Stunde und die Werbung. Dann sitzt Ungarns Regierungschef Viktor Orbán im Studio. Und spricht. Eigentlich reicht es, sich ein einziges Mal diesen Freitagsauftritt von Orbán anzuhören, um ein gutes Bild davon zu erhalten, wie es in Ungarns öffentlich-rechtlichen Medien und eben auch in den Sendern der staatlichen Radiogesellschaft Magyar Rádió zugeht. Der Freitagsauftritt ist ein fester Termin, zu dem Orbán ausnahmsweise nur dann nicht erscheint, wenn er sich im Ausland aufhält. Orbán kommt mit seinem Pressechef Bertalan Havasi ins Studio, dessen gesamter Habitus so abgrundtief servil ist, dass selbst Orbán ihn verachtet, wie er manchmal durch kleine öffentliche Demütigungen Havasis zu erkennen gibt. Orbán spricht in der Regel 23 Minuten. Die Dramaturgie ist meistens dieselbe: Am Anfang polemisiert der Regierungschef, üblicherweise gegen Europa oder gegen Vaterlandsverräter, und verteidigt die Ungarn, die in seiner Diktion permanent das Opfer verschiedener Machenschaften sind. Dabei lässt er häufig einen saloppen Spruch los, der dann in Ungarn oder auch international für Schlagzeilen sorgt. Anschließend erläutert Orbán, warum und wie die Politik seiner Regierung für das Wohl der „ungarischen Menschen“ sorgt. So weit, so gewohnt. Der Tiefpunkt dieser wöchentlichen Radioansprache besteht darin, dass sie sich als Interview ausgibt. Im Studio sitzt Orbán gegenüber eine Moderatorin (früher war es ein Moderator) und liefert die Stichworte für das, was der „Herr Ministerpräsident“ der Öffentlichkeit mitzuteilen hat. Die Fragen sind durchgehend völlig harmlos und vermutlich an einem Themenkatalog orientiert, den die Moderatorin Éva Kocsis vorher zugereicht bekommt. Orbán ist eigentlich ein dankbarer Interviewpartner. Er widerspricht sich oft und liefert damit wie auch mit seinen häufig zugespitzten Formulierungen Steilvorlagen für ein kritisches Nachhaken. Doch von der Moderatorin kommt nichts. Manchmal stellt sie so untertänige Fragen, dass Orbán sie spöttisch anfährt. Es ist die Verachtung des Herrn für seinen Diener. Orbán antwortet im Schnitt zweieinhalb Minuten auf eine Frage. Am Ende bedankt die Moderatorin sich nicht. Sie sagt einen einzigen Satz: „In der letzten halben Stunde hörten sie den Ministerpräsidenten Viktor Orbán.“ Ob es nun ein Freudscher Versprecher ist oder feine, ironische Rache – die Moderatorin spricht die Wahrheit.