Sehnsuchtsvolle Angsthasen

Feature von tomheithoff

Dauer: 10:26 Minuten

Audio-Nr: #1697

Inhalt: Der deutsche Anglist Hans-Dieter Gelfert will in seinem Buch "Was ist deutsch?" die deutsche Seele ergründen. In diesem Feature kommen Buchkritik und spontane Kommentare von Zuhörern zusammen.

Schlagworte: deutsche,Seele,Klischee

Skript: Sehnsuchtsvolle Angsthasen Hans-Dieter Gelfert ergründet die deutsche Seele VON TOM HEITHOFF Nationale Charakter-Zuschreibungen sind meist auch Beleidigungen. Mit Behauptungen über Volks- und Nationalmentalitäten sollte man daher lieber vorsichtig sein. Wenn russische Trunksucht mit französischer Oberflächlichkeit und italienischer Schwatzhaftigkeit in den Ring geschickt werden, um sich mit deutscher Pedanterie zu messen, kommt meist nicht sehr viel mehr dabei heraus als verstärkter Grimm und viele blaue Flecken auf der Seele. Und doch - das Nachdenken über nationaltypische Eigenschaften steht hoch im Kurs. Insbesondere den Deutschen ist die Selbstbefragung geradezu eine Herzensangelegenheit. Womit wir schon einen typisch deutschen Wesenszug am Wickel haben, wie der Anglist, Übersetzer und Schriftsteller Hans-Dieter Gelfert in seiner Studie "Was ist deutsch?" (Beck 2005, 211 S., 9,90 Euro) mit einem ironischen Augenzwinkern zugibt. Um alle Facetten der deutschen Mentalität zu beleuchten, geht der Autor über eine reine Bestandaufnahme hinaus und versucht zu ergründen, wie die Deutschen wurden, was sie sind, wie es im Untertitel heißt. Dabei stößt er auf 30 deutsche "Urworte": Heimat und Gemütlichkeit, Weltschmerz und Weihnacht, Wald und Ehrfurcht, Pünktlichkeit und Tüchtigkeit, Pflicht und Tiefe gehören dazu. Wobei die Tiefe offenbar besonders tief in des Deutschen Gemüt verankert ist. Außer bei Gelfert selbst. Dem Anglistikprofessor ist das deutsche Tiefenstreben wahrscheinlich durch seine anglistische Lehrumgebung soweit ausgetrieben worden, daß er völlig rat- und verständnislos vor einem Mann wie Heidegger steht, der - typisch deutsch eben - nach dem Ursprung des Kunstwerks sucht. Nicht nur Heidegger hat ganz schön was einzustecken. "Je höher das politische Deutschland strebte, um so tiefer gründelten seine Denker und Dichter, wobei jede Ente für einen Schwan gehalten wurde, wenn sie nur genügend Schlamm vom Grunde aufrührte; denn alles Dunkle musste tief sein." Während die französischen und englischen Denker nach Klarheit und Weitsicht strebten, stehe bei uns die als tiefsinnig verkleidete "sprachliche Kraftmeierei" hoch im Kurs. Das deutsche Haupt-Urwort aber ist für Gelfert die Geborgenheit, nach der sich "die deutsche Seele am meisten sehnt". Und das habe einen Grund: die politische Zersplitterung, die Kleinstaaterei über Jahrhunderte hinweg. Da das große, Sicherheit spendende Staats-Ganze fehlte, habe sich ein Grundgefühl der Angst sowie daraus die Sehnsucht nach dem behaglichen, geschützten Winkel ausgebildet: sei es im Verein, in der Familie, in Gott, in der Natur oder einem metaphysischen System. Bis heute würden wir in unserer kollektiven Ängstlichkeit "bei den geringsten Anzeichen einer Krise immer gleich das Gespenst der Katastrophe an die Wand" malen. Wer wollte dem widersprechen? Interessanterweise bleibt Gelfert bei seinem Forschungsritt bisweilen an Hürden hängen, die er sich selber auflegt. Um Klischees über Deutsche auszuräumen, bedient er sich eben dieser Klischees als Argumentationskrücke. So wenn er gegen den Makel der Humorlosigkeit argumentiert, indem er sich als Deutscher verteidigt gegen die (angeblich) englische Sicht, der Deutsche habe keinen Humor. Wenn er diese externe, vermeintlich wahre Zuschreibung bemüht, verkennt Gelfert aber, dass schon die Auffassung, dass der Engländer uns für humorlos hält, nichts als ein Klischee ist - und zwar der Deutschen selber. Mit einem Klischee quasi über Bande gegen das Klischee deutscher Humorlosigkeit zu argumentieren, entbehrt nicht einer gewissen Komik. Zumal er dann ausgerechnet Volksfeste und die Love Parade als Beispiele für deutschen Humor heranzieht. Das zieht einem dann doch die Schuhe aus, und man fragt sich, ob das (angeblich) englische Klischee nicht vielleicht doch recht hat. Auch manche Widersprüche lassen den Leser stutzen. So beschreibt er die Deutschen als "eines der nüchternsten Völker", das aufgrund des jahrhundertelangen Fehlens einer kosmopolitischen Metropole anders als die Franzosen und Engländer keine Konversationskultur, keinen smalltalk gelernt hat. Während unsere Nachbarn die Kunst des Plauderns beherrschten, würden die Deutschen bei jeder Gelegenheit mit ernster Miene Probleme diskutieren. Und das sogar beim geselligen Mittagsessen! An anderer Stelle hingegen charakterisiert Gelfert die Deutschen als sehnsuchtsvolle Angsthasen. Am Ende des Buches laufen die beiden Fäden sogar sprachlich zusammen, wenn er seine Hoffnung ausdrückt, dass die uns eignende "praktische Nüchternheit irgendwann einmal die Neigung zu Angst und Sehnsucht verdrängt". Ist der Autor so unpräzise oder sind wir, die Deutschen, so widersprüchlich? Angelsachse, du hast es besser - so schallt es uns oft zwischen den Zeilen entgegen. Dem Anglisten Gelfert, bis 2000 Professor an der Freien Universität, sei das natürlich verziehen. Doch muss die Frage erlaubt sein, wie er auf der einen Seite mehr amerikanischen Optimismus einfordern kann, während er auf der anderen die historische Erklärung dafür liefert, warum wir so ängstlich wurden, wie wir sind. Sei amerikanischer? Das erinnert ein wenig an die absurde, nie einzulösende Forderung Sei spontan! Und als ob das nicht genug wäre, bemüht Gelfert auch noch das berühmt-berüchtigte Neidklischee, demzufolge der arme Deutsche dem erfolgreichen das schicke Auto zerkratzt, während der arme Amerikaner sich den erfolgreichen - ich will auch so ein Auto - zum Vorbild nimmt. Solche talkshowerprobten Totschlagflachheiten will man eigentlich nicht mehr hören. So ist dieses Buch in seiner Suche nach Grund und Tiefe unserer Mentalität auch ein bißchen oberflächlich , nicht gerade grüblerisch und ganz und gar nicht ehrfurchtgebietend. Gänzlich undeutsch also nach Gelferts Maßstäben. Gerade darum sei es dem deutschen Leser umso mehr empfohlen.
Upload Datum: 24.11.2011

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Dokublog Autor tomheithoff

Zum Autor: Studium Theaterwissenschaft und Germanistik. Freier Hörspielmacher, Übersetzer und Gelegenheitsjournalist. Gewinner des Internationalen Hörspielnachwuchspreises der Leipziger Buchmesse 2007 und des Kurzhörspielwettbewerbs track 5´des ORF 2009. Sein Stück Hundelebensberatung gewann den 1. Preis beim Leipziger Hörspielsommer 2009 (Kategorie Beste Geschichte) und den 1. Preis für das beste Langhörspiel beim Berliner Hörspielfestival 2009. "La vie en rose-Vom Leben und Überleben in Paris" gewann 2015 den 1. Preis beim Berliner Hörspielfestival. 2. Preis für das Langstück "Dummrum" beim Berliner Hörspielfestival 2018. Seit 2019 auch Podcast-Produzent für den medhochzwei Verlag /Autorin Christine Schön : www.demenz-podcast.de

Website: http://www.tomheithoff.de

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