Neue Orte der Radiokunst: Brüssel

Die Kunsthochschule ERG (école de recherche graphique) in Brüssel lud im Januar dieses Jahres ihre Studierenden zu einem zweitägigen Seminar unter der Überschrift 'After Empire' ein, in dem eine postkoloniale Zukunft in Belgien erdacht, erfunden und diskutiert werden sollte. 25 Workshops und ein umfangreiches Film- und Vortragsprogramm mit vielen internationalen Gästen boten einen breitgefächerten Einstieg in das Thema. Gleich drei der Workshops setzten sich mit einer kreativen Nutzung des Radios auseinander.

Sarah Washington, meine Mobile Radio Partnerin, an deren Einladung ich meinen Besuch in Brüssel gekoppelt hatte, startete ihren Workshop mit einer Tour de Force über die Grundlagen des Radios. "Radio ist alles was in einem großen Teil des elektromagnetischen Spektrums passiert". Dazu zählt u.a. auch das natürliche Radio, das schon lange vor den ersten menschlichen Aussendungen 'on air' war. Wussten Sie dass man Blitze im Radio hören kann? Schalten sie einfach beim nächsten Gewitter ein Mittelwellenradio ein und sie werden erfahren, dass ein Blitz eben auch ein großer Funken ist, der in die Runde funkt.
Wenn aber nun die Studierenden Rundfunk machen wollen, stellt sich sogleich die Frage nach der Überwindung der Hierarchien, die bestimmen, was gesendet werden darf. Sarah Washingtons Antwort bestand aus zwei UKW-Piratenradiosendern, die im praktischen Teil des Workshops zusammen mit einigen tragbaren Radiogeräten zur freien Nutzung durch die Teilnehmenden zur Verfügung standen. Sie wurden sofort für eine Reihe von Experimenten genutzt. So wurde zum Beispiel ein Schar von Studierenden durch die Hochschule dirigiert mit der Aufgabe, die Forderungen der im Radio gehörten Anweisungen zu erfüllen: "Setz Dich hin und warte." "Öffne die nächste Tür." "Falls jemand dort ist sage 'Guten Tag'" "Stehle etwas und bring es zurück zum Sender." Dass nun gleich zwei UKW-Frequenzen für derartige Spiele zur Verfügung standen, stellte auch ein Urprinzip des Radios in Frage, denn der Hörende kann wählen, ob der eine oder der andere Kanal gehört wird, oder sogar beide gleichzeitig, wenn man zwei Radios benutzt. Die künstlerische Nutzung zweier Radiofrequenzen zu diesem Zweck ist nicht neu aber rar. Im Jahr 2013 zum Beispiel konnte Mobile Radio in Stockholm eine 24-stündiges Doppelfrequenzradiokunstfestival veranstalten. Und schon 1958 versuchte der französische Rundfunk das technische Problem der Stereo-Übertragung durch simultane Transmissionen auf zwei Frequenzen zu lösen.

Ein weiterer Workshop im Rahmen des Seminars wurde vom ACSR (atelier de création sonore radiophonique) geleitet. Diese gemeinnützige Organisation zur Förderung unabhängiger Radiokunst ist seit 20 Jahren aktiv und in der europäischen Radiolandschaft wohl einmalig. Sie veranstaltet Festivals und unterstützt in hauseigenen Studios die Produktion von Features, Hörspielen und Klangkunstwerken, ohne an einen speziellen Sendepartner gebunden zu sein. Die entstandenen Werke werden je nach Möglichkeit z.B. im öffentlich-rechtlichen Rundfunk Belgiens, auf Brüssels Community-Radios, in Internet-Platformen, über das Radiokunst-Netzwerk Radia oder über Arte Radio verbreitet. Oft haben hier die Künstlerinnen und Künstler zum ersten Mal die Chance eine radiophone Arbeit zu verwirklichen. Die im ACSR-Workshop entstandenen Miniaturen wurden noch am gleichen Tag gesendet.

Der dritte Workshop war eine zweitägige, in Eigenregie von den Studierenden veranstaltete, temporäre Radiostation. In einem halligen Ausstellungsraum in der hochschuleigenen Galerie wurde kurzerhand unter Mithilfe des Architekturfachbereiches ein Bambusgerüst errichtet und mit gespendeten bunten Tüchern und Teppichen ein wohnliches Studiozelt errichtet. Im Gegensatz zu früheren Inkarnationen dieser temporären Radiozone hatte sich dieses Mal die Brüsseler Community-Station Radio Panik bereit erklärt, tagsüber das komplette Programm der Studierenden live auf ihrem UKW-Programm zu übernehmen, was selbst in der Generation der Digital Natives große Freude, Bereitschaft zur Mitarbeit und Übernahme von Verantwortung auslöste. Es entstand ein wunderbar abwechslungsreiches Beispiel für offenes, experimentelles Radio, dass viele Elemente der laufenden Workshops in sein Programm mit einband.

Wer nun glaubt, das dies eine einmalige Gelegenheit war, in der junge Menschen sich in Brüssel im Radio ausprobieren können, der täuscht sich. Das RITCS (Royal Institute for Theatre, Cinema & Sound) betreibt schon seit Jahren online das Ausbildungsradio XL Air und das Postgraduierten-Programm a·pass (advanced performance and scenography studies) generiert zur Zeit das richtig/falsche/real/fictionale Radio Triton. Und dann gibt es natürlich mehrere Community Radios, wie zum Beispiel Radio Campus oder das schon erwähnte Radio Panik, die immer ein offenes Ohr für experimentelle Radiokunst haben. Und das seit über 30 Jahren. In einer Stadt wie Brüssel, in der erst im Jahr 2008 überhaupt eine offizielle Verteilung aller UKW-Radiofrequenzen stattgefunden hat, gibt es also nicht nur eine artenreiche Radioökologie, sondern auch eine große Hörerschaft für kreatives Radio und die dazugehörigen Experimentier- und Ausbildungsorte.

Eine radio-getünchtes Kunstwerk möchte ich als Beispiel zur Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit Belgiens zum Schluss noch vorstellen, auch wenn es schon ein paar Jahre alt ist. Die englische Künstlergruppe YoHa hat sich mit dem im Osten Kongos vorkommenden Erz Coltan auseinandergesetzt, das zur Herstellung von nahezu jedem elektronischen Gerät gebraucht wird und als sogenanntes Konfliktmineral seit Jahrzehnten den Bürgerkrieg im Land anheizt. In YoHas Arbeit 'Tantalum Memorial' wurden Exil-Kongolesen über eine Sendung der Londoner Radiostation Resonance FM aufgefordert einen aus einer alten Telefonzentrale konstruierten Anrufbeantworter zu kontaktieren und dort ihre Geschichte zu erzählen. Der über 100 Jahre alte und immer noch funktionierende elektromagnetische Mechanismus dieses Kommunikationsgeräts wurde ausgestellt und gewann 2009 den ersten Preis bei der Transmediale in Berlin. Eine vor kurzem von US-Präsident Trump vorgeschlagene Änderung des Dodd-Frank acts sieht vor, die Regulierung des Verkaufs von Konfliktmineralien wieder aufzuheben.