"Das Radio ist tot, lang lebe Audio!?"

von Christian Bollert

„Das Radio ist tot, lang lebe Audio?“  

Vor gut zehn Jahren habe ich „Das Radio ist tot, lang lebe das Radio“ in einem von mir sehr geschätzten Radiosender als Idee gesehen und mich seitdem immer wieder gefragt, ob das denn stimmt.   Ohne Frage, fast alle Medienforscher erkennen seit Jahren auch beim Audiokonsum einen digitalen Wandel. Junge Menschen hören weniger klassisches Radio, Streamingdienste werden in fast allen Altersgruppen immer beliebter und seit Popkulturphänomenen wie „Serial“ in den USA oder „Sanft & Sorgfältig“ von Radio Eins in Deutschland wachsen Podcastabrufzahlen so dynamisch wie kaum eine andere Medienform. Audio ist gerade sexy, sicher auch weil große Tech-Konzerne wie Amazon, Apple, Google, Microsoft oder Samsung auf Sprachsteuerung setzen und eine ganze Armada von Sprachassistenten auf den Markt werfen, die übrigens auch gekauft werden. Gleichzeitig scheint die Nutzung von klassischen Radiosendern, vor allem über das schon mehrfach totgesagte UKW, ziemlich stabil, die Nutzung über mobile Internetverbindungen wie LTE ist fast vernachlässigbar und auch im Internet sind vor allem die Angebote der bekannten UKW-Sender mit ihren Streams besonders erfolgreich.

Ist das Radio also gar nicht tot?   Es ist kompliziert. Das lineare Radio ist sicher nicht tot, aber es läuft auch nicht bei ihm. Vermutlich hat Dominik Born in seiner Analyse hier im Dokublog Recht, wenn er sagt, dass lineare Radio verliere immer mehr an gesellschaftlicher Relevanz. Denn ins große Audio-Haus ziehen schon seit Jahren immer mehr Leute ein und es wird überall angebaut. Mit diesen Onlineradiomachern und Podcastern hatte man sich ja schon arrangiert. Die sind irgendwie putzig, aber konnten sich in der Hausgemeinschaft nie so richtig durchsetzen. Auffällig ist nur, dass einige von denen in den letzten Jahren ziemlich viel zu tun hatten und nur noch selten zu Hause sind. Etwas dubios erscheinen vielen diese neureichen Nachbarn der Tech-Konzerne, die eine Wohnung nach der anderen kaufen und ein paar Leute sind auch schon aus der Radio-WG aus- und eine Tür weiter wieder eingezogen. Auffällig ist auch, dass die anderen Hausbewohner viel häufiger Besuch haben. Junge Leute, Programmierer, Graphiker, Werbeleute und in den letzten Monaten auch immer mehr Zeitungs- und Onlinejournalisten. Einige von denen haben auch schon eigene Wohnungen im Audio-Haus gekauft und bauen an. Mit Ruhe und Beschaulichkeit ist es jedenfalls vorbei. Zum Glück machen die alle kein lineares Radio für unsere Region, denken sich viele Radiomacher. Das können nur wir!     Hätte mich jemand vor fünf Jahren gefragt, wie lange es noch lineares Radio geben wird, hätte ich vermutlich gesagt, noch viele Jahrzehnte. Davon bin ich auch heute noch überzeugt, ich denke nur mittlerweile, dass es nicht mehr die gleichen Akteure sein werden. Denn das lineare Radio hat sich viele Jahre selbst in die Tasche gelogen: Uns passiert schon nicht das, was bei Zeitungen, Magazinen oder zuletzt beim Fernsehen passiert ist. Den digitalen Medienwandel gibt es in unserer Branche nicht. Beim Radio ist alles anders. Wir passen perfekt zu sozialen Netzwerken und in die digitale Welt, auch wenn wir unser Geld im analogen UKW verdienen.   Aber jetzt sind die Nutzer doch schneller und cleverer als viele Programm-Macher das lange wahrhaben wollten. Denn viele haben keine Lust mehr auf einfallslose Dauerbespaßung, starre Sendezeiten und ein Einheitsprogramm für alle. Anders ist der eindeutig messbare Podcast-Boom nicht zu erklären.  

Ich kann Nathalie Wappler Hagen nur zustimmen, wenn sie hier in dieser Debatte anfügt, dass viele Inhalte auch im klassischen linearen Radio nicht originär live und linear produziert worden sind. Nehmen wir einen klassischen Beitrag. Für den Nutzer spielt es kaum eine Rolle, wann er produziert worden ist. Nur die Programmmacher haben bisher auf der Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner überlegt, wann sie denn diesen am Vorabend produzierten Beitrag am nächsten Morgen versenden. Die Hörer möchten ihn eigentlich dann hören, wenn sie dafür Zeit haben. Das unterscheidet sich in keinster Weise von den Anforderungen an modernes Fernsehen oder Video. Bei unseren Tests mit Sprachassistenten ist übrigens eine Erkenntnis, dass die zeitunabhängige Nutzung durch diese Geräte noch stärker zunimmt. Die Hörer wollen Nachrichten mittlerweile dann hören, wenn sie dafür Zeit haben. Denn „Hey Google, spiele Nachrichten“ sagen Menschen nicht nur zur vollen Stunde.  

Gleichzeitig ist es aber eben auch richtig, dass Hörerinnen und Hörer nicht permanent jede Programmentscheidung selbst treffen wollen. Ich persönlich will auch nicht jeden Titel selbst auswählen, nicht jedes Gesprächsthema selbst anklicken oder per Sprachbefehl anfordern. Das ist sicher auch ein Grund für den Erfolg der vielen Playlisten bei Streamingdiensten und eine weitere Herausforderung für lineares Radio.

Wie kann es Radiomachern gelingen, mit diesen hochpersonalisierten Angeboten mitzuhalten und die Menschen nicht nur zu behalten, sondern sogar zu begeistern?   Wir betreiben mit detektor.fm eine Onlineradio- und Podcastplattform. Unseren Hörerinnen und Hörern wollen wir immer die Wahl lassen wie sie uns nutzen und bieten deshalb grundsätzlich eine aktive und eine passive Option an. Wir produzieren seit mehr als acht Jahren jeden Tag zwei lineare Streams mit einem 24h-Programm, einen Wort- und einen Musikstream. Daneben bieten und produzieren wir jedoch ebenfalls seit unserem Start im Dezember 2009 Inhalte zum zeitunabhängigen Hören an. Unser Anspruch ist es, als Journalisten aus einem Überangebot auszuwählen und neue Impulse zu setzen, sowohl inhaltlich als auch musikalisch. Wir wollen unseren Hörern immer auch Unbekanntes und Neues präsentieren. Hier sind wir davon überzeugt, dass das professionelle Journalisten noch lange besser können als Algorithmen. Es ist ja auch kein Zufall, dass viele Streamingdienste menschliche Musikredakteure einstellen, um die vielen Playlisten zu kuratieren.

Wir sehen aber auch, dass Gemeinschaft nicht unbedingt von Linearität abhängt. Die Hörerinnen und Hörer unseres aktuell beliebtesten Podcasts, dem „brand eins Magazins zum Hören“, einer Kooperation mit dem Hamburger brand eins Magazin, fühlen sich auch als Teil einer „Community“. Das zeigen die Reaktionen in sozialen Netzwerken oder per Mail. Auch wenn kaum jemand den Podcast gleichzeitig mit jemand anderen hört, so hören doch zehntausende Menschen den gleichen Podcast.   Wir können außerdem heute dank der digitalen Verbreitung unseren Hörern verschiedene Versionen des gleichen Produktes anbieten. Nehmen wir ein Gespräch zu den Folgen des autonomen Fahrens für Radfahrer in unserem Fahrradpodcast „Antritt“. Auf dieses Gespräch kann die Hörerin im linearen detektor.fm-Programm stoßen, wenn sie die Sendung zur klassischen Sendezeit am Donnerstagabend in unserem Wortstream per Webseite, App, radioplayer oder DAB+ hört. Hier hört sie oder er eine kürzere, für das lineare Radio bearbeitete und angepasste Form. Der Nutzer kann auf das Gespräch aber auch über eine eigene Suche bei Apple, Bing, Deezer, Google oder Spotify stoßen und direkt in einer längeren Version anhören. Schließlich bekommen alle, die den Podcast zur Sendung „Antritt“ abonniert haben, einen Hinweis im persönlichen Podcastprogramm und können im Podcast die besonders ausführliche Version für Fahrradinteressierte hören. Aus einem Gespräch werden also drei Versionen für Livestream, Webseite und Podcast und die Nutzer wählen selbst die für sie passende Option. Genau so verfahren wir mit all unseren Inhalten bei detektor.fm. Wir überlegen grundsätzlich, in welcher Nutzungssituation erreichen wir unsere Hörer und wie muss das Audio-, Radio- oder Podcastprodukt dafür gemacht sein. Dominik Born hat in seinem Debattenbeitrag in dieser Reihe zu Recht darauf hingewiesen, dass ein komplettes Audioarchiv unkuratiert und nicht suchmaschinenoptimiert ins Netz zu stellen, leider wenig sinnvoll ist. Es ist jedoch aus unserer Sicht sehr sinnvoll, ein komplettes Audioarchiv kuratiert und suchmaschinenoptimiert ins Netz zu stellen. Denn dann werden die Inhalte gefunden, die Hörer können sich orientieren und das Beste: die Inhalte werden dann auch gehört.  

Ich bin davon überzeugt, dass künftig auch im Radio noch stärker als bisher über Inhalte gesprochen wird. Denn Inhalte sind in digitalen Medien am Ende entscheidend. Es ist der spezifische Podcast, die Comedy oder das Hörspiel, was ich als Nutzer bewusst suche und auswähle. Nur wer hochwertige oder erfolgreiche Inhalte hat, wird in einer digitalen Audiowelt überleben und auch dauerhaft Hörer erreichen. Dementsprechend optimistisch darf man als Nutzer sein, dass die Audio-Welt durch die vielen neuen Akteure oder Mit-Bewohner an Vielfalt und Qualität gewinnen wird. Dazu dürfte auch gehören, dass Verbreitungswege verschmelzen und kombiniert werden.

Wir zum Beispiel testen gerade im Rahmen eines Pilotprojektes der Sächsischen Landesmedienanstalt die Ausstrahlung unseres Wortstreams über das Digitalradio DAB+ in zwei lokalen Märkten. Denn wir wollen mit unseren Inhalten möglichst viele Menschen in jeweils passenden Situationen erreichen.     Schließlich ist es nach heutigem Stand vollkommen unklar, wie genau Sprachassistenten von den Besitzern künftig genutzt werden. Vielleicht bleiben ja Podcasts ein sehr individuelles Medium, welches vor allem über das Smartphone gehört wird und auf Sprachassistenten gewinnen Playlisten und Live-Streams mehr Hörer. Für dieses mögliche Szenario sollten sich klassische Radiomacher jedoch wappnen und eigene Strategien entwickeln, damit man dort überhaupt gefunden wird und ein passendes Produkt mit zeitgemäßen Funktionen anbietet. Ansonsten ist die Gefahr doch sehr groß, dass das Radio zwar nicht gleich sterben, aber aufs Altenteil abgeschoben wird.    

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