Boxen fürs Bleiberecht

Feature von Dieterjandt

Dauer: 9:47 Minuten

Audio-Nr: #2458

Inhalt: Die Boxweltmeisterin Susi Kentikian lebte in ihrer Jugend mit ihrer Familie in Hamburg auf einem Schiff für Asylanten. Als sie bereits Juniorenmeisterin ist, soll sie mit ihrer Familie nach Armenien abgeschoben werden. Eine Stunde vor dem Abflug können Freunde die Abschiebung verhindern. Später wird Susi Kentikian Weltmeisterin

Schlagworte: Kentikian,Boxweltmeisterin,Abschiebung,Asylunterkunft,Flucht

Skript: Boxen fürs Bleiberecht – Die Weltmeisterin Susi Kentikian Ankündigung des Moderators zum WM-Kampf Frank Rieth: Mit Sicherheit von der Einstellung her, von der Kampfeinstellung her, der Wichtigkeit, was das alles für ihr Leben bedeutet, als auch von Kraft, Ausdauer, Beweglichkeit, Technik etcetera, ist es schon herausragend. Es wird so schnell keine Frau oder Mädchen geben, die da wirklich hundert Prozent mithalten kann. Sprecher: Die Alsterdorfer Sporthalle in Hamburg. Susi Kentikian will ihren Titel als Boxweltmeisterin verteidigen. Selbstbewusst geht sie durch das Spalier der Zuschauer. Ihre dunklen Augen sind hellwach. Sie steigt in den Ring und macht ein paar Schlagübungen. Für eine Boxerin ist sie eigentlich zu klein. Frank Rieth: Also ihre letzte Gegnerin, die Hokmi, ist mit Sicherheit eine der besten Boxerinnen im gesamten Profibereich. Selbst die hat es nicht geschafft, ich wüsste nicht, wer das schaffen sollte im Moment, also die hat schon eine enorme Qualität. Die Frage ist, wie lange sie das auf diesem hohen Level halten kann, die Susi, wo die jetzt auch sehr sehr viele Kämpfe machen muss, wird sich zeigen, also technisch, taktisch, boxerisch kommt da so schnell keiner ran. Susi Kentikian: Weil das ist eine philippinische Weltmeisterin, und das vermarktet sich viel besser als eine Marie Ortega. Ich hab leider noch keine DVD gesehen, aber wir warten noch, bis da was kommt und dann kann ich sehen, wie sie boxt und was sie so drauf hat. Ich boxe, egal wer da kommt. Sprecher: Susi Kentikian sitzt in einem kleinen Nebenraum des Universum-Boxstalls. Sie hat soeben ihr tägliches Trainingsprogramm absolviert. Noch vor elf Jahren war sie mit ihrer Familie auf einem Schiff im Hamburger Hafen untergebracht. Atmo: Hafengeräusche Susi Kentikian: Das war in Altona war das, und das war ja für Asylanten extra gemacht, und ja, es waren ganz normale, ja solche kleinen Zimmer wie hier jetzt so, wo wir gerade sind, und eh einfach, also es war nichts Besonderes, Küche, es war alles allgemein, ne. Man hatte nichts Privates. Sprecher: 1996, im Alter von acht Jahren, lebt sie mit den Eltern und ihrem Bruder auf der Bibby Altona, einem großen Containerschiff. Rund 250 Flüchtlinge aus aller Welt sind hier untergebracht. Die rot-weiß gestrichenen Kabinen haben eine Größe von 14 Quadratmetern, für eine Familie. Die sanitären Verhältnisse sind katastrophal. Die Familie Kentikian muss 18 Monate lang warten, bis sie vom Schiff in ein Flüchtlingsheim wechseln kann. Dabei ist sie ständig von Abschiebung bedroht. Geflohen ist sie, weil der Vater während der kriegerischen Auseinandersetzungen um die Enklave Berg-Karabach zum armenischen Militär eingezogen werden sollte. Eigentlich ist er Tierarzt. Frank Rieth: Man muss zum Boxen nicht aggressiv sein. Man muss eben nen starken Willen haben, man muss offensiv boxen können, wenn man grad eben wie Susi sehr klein ist, die guten Boxer, die meisten, sind nicht aggressiv. Sprecher: Frank Rieth. Leiter der Kampfsportschule Argon. Er hat Susi Kentikian seinerzeit das Boxen beigebracht. Frank Rieth: Aggression beim Boxen ist an sich unpraktisch. Offensives Denken und starker Willen und keine Angst zu haben, das ist etwas Gutes. aber eben Aggression gehört da mit Sicherheit nicht dazu, weil Aggression führt eher dazu, dass man genau das Gegenteil macht von dem, was man soll. Sprecher: Einen starken Willen beweist die Familie schon damals im Füchtlingsheim - ein ausgedientes, verwinkeltes Schulgebäude. Auch hier beengte Verhältnisse. Nur ein Zimmer für vier Personen. Die wenigen Habseligkeiten sind in Koffern verstaut, oben auf einem breiten, alten Kleiderschrank. Die Familie erhält Unterstützung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Das sind etwa 25% weniger als der Sozialhilfesatz. Der Vater ist bei allen Beschränkungen, die das Leben als Asylbewerber mit sich bringt, entschlossen, sich nicht unterkriegen und entmutigen zu lassen. Er findet Minijobs, schickt seine Kinder auf die Realschule und sorgt dafür, dass sie in einer alten Turnhalle Sport machen können. Frank Rieth: Also Susi ist letztlich auch, wie die meisten Leute, mitgeschleppt worden von ihrem Bruder, der immer das Tollste erzählte vom Training, und dann hat er halt seine Schwester mal mitgenommen, dann wollte sie sich das mal angucken, ob das wirklich so anstrengend ist, … Susi Kentikian: Genau, ja, ich wollte einfach nur mal zugucken und schauen, wie so Boxtraining läuft, und er kam und meinte, Mädel, das geht nicht, du musst mitmachen. Hier gibt`s kein Rumsitzen, und ich war erstmal sprachlos und wusste nicht, was ich sagen soll, hab gesagt: `Okay, dann mache ich eben mit` – Frank Rieth: Der Vater kam mit, hat wie die meisten Väter erst mal sich große Sorgen um sein Töchterchen gemacht. Hat dann erst mal gesehen, dass es sich eben nicht um brutales Gemetzel handelt, wo die Leute blutüberströmt nach Hause rennen, sondern dass es ein ganz normaler Sport ist, hat außerdem gesehen die Freude und den Eifer seiner Tochter und die Begeisterung seiner Tochter. Sprecher: Die Mutter ist seit längerer Zeit krank. Sie kann die ständige Anspannung nicht durchhalten und braucht teure Medikamente. Der Vater nimmt jede Beschäftigung, die er bekommen kann, an und würde gern mehr arbeiten. Frank Rieth: Also wie es irgendwie ging, sind die über die Runden gekommen, dazu muss man sagen, dass das Leben einem in der Beziehung von der Ausländerbehörde in Hamburg nicht leicht gemacht wird. Die kriegen dann teilweise überhaupt keine Arbeitserlaubnis oder ne Arbeitserlaubnis für zwei Stunden am Tag, aber die haben sich da durchgebissen mit diesen schlechten Beschäftigungsverhältnissen. Sprecher: Im Jahre 2001, da ist Susi Kentikian 14 Jahre alt, boxt sie um die Hamburger Juniorenmeisterschaft. Sie gewinnt. Währenddessen schickt die Ausländerbehörde Briefe, in denen die baldige Abschiebung angekündigt wird. Die Mutter liegt im Kranken-haus. Irgendwie wird das alles schon, hofft die Familie. Bis eines Nachts fünf Beamte vor der Tür stehen. Susi Kentikian: Ja gut, das war ganz normal. Die sind gekommen und haben gesagt: `Sie müssen ihre Sachen packen, und Sie fliegen heute nach Armenien. Und wir haben dann natürlich erstmal gedacht, Wie kann das sein? En Schock. En wirklich en Riesenschock war das. Frank Rieth: Es gab da nichts mehr dran zu rütteln an diesem Abschiebebeschluss, waren die ausführenden Kräfte sich sehr sicher ihrer Sache und sagten der Familie: `Sie können ruhig telefonieren, ja, und dann klingelte halt morgens um sechs auf einmal das Telefon bei mir, ja, und das war dann mein Arbeitstag gewesen, ich hab mich dann vertreten lassen in meiner Sportschule, hab mich stattdessen an mehrere Telefone geschwungen, Gott und die Welt in Bewegung gesetzt, über Presse, Anwalt letztlich dann auch den Petitionsausschuss der halt eben in solchen kritischen Fällen noch mal eben das überprüft unter anderen Aspekten, eine Petition mit Dringlichkeitsantrag gestellt, und und und und – Sprecher: Die Familie sitzt mittlerweile im Flughafengebäude in einem abgeschirmten Bereich. Das Flugzeug soll um 13 Uhr starten. Es bleibt nichts als warten und bangen und immer noch hoffen. Frank Rieth: Das ist denen schon ziemlich nahe gegangen, dem Vater vor allen Dingen, der hat wirklich auch noch in der Abschiebehaft noch nen Kreislaufzusammenbruch erlitten, weil der halt eben mit den Nerven fertig war. Nicht genug, dass sie den Vater mit den beiden Kindern abschieben wollten, die kranke Mutter wollten die hier zurücklassen im Krankenhaus, was rechtlich zwar machbar ist, aber eigentlich normalerweise nicht praktiziert wird. Es war also ein ganz krummes Ding, aber wir konnten`s stoppen. Da liefen, was weiß ich, am Flughafen lief da noch jemand, der mal nen Artikel über Susi gemacht hatte, und das alles zusammen, das Engagement von vielen Leuten hat dann letztlich die abschiebenden Kräfte dazu bewogen, ne Stunde vor Abschiebetermin, also bevor das Flugzeug ging, die aus der Abschiebehaft zu entlassen. Sprecher: Susi Kentikian wird Deutsche Juniorenmeisterin. Die Medien werden auf sie aufmerksam. Weniger, weil sie den Titel errungen hat, sondern wegen der Umstände. Jemand, der sich durchbeißt, ist immer gut für eine Story. Susi Kentikian: Ja, ich bin schon selbstkritisch, also wenn ich mal was nicht so ordentlich mache oder wenn irgendwas nicht klappt, dann gebe ich mir immer die Schuld und ja, aber das ist, glaube ich, auch gut, wenn man selbstkritisch ist, weil so kann man sich ja auch entwickeln, aber ich bin auch selbstbewusst. Sprecher: Susi Kentikian hat ihren Titel erfolgreich verteidigt. Ihre Gegnerin sitzt erschöpft in der Ringecke, während sie mit erhobenen Armen die Ringseile abläuft und den Sieg mit den Zuschauern feiert, die allerdings ein wenig enttäuscht sind. Zu kurz und zu einseitig war der Kampf. Der Vater steht unten am Ring und schaut voller Stolz auf seine Tochter. Susi Kentikian: Man musste schon warten und warten und arbeiten und arbeiten, damit man vom Sozialhilfe raus ist, und das haben wir dann geschafft, und dann hieß es, dass diese Leute arbeiten, sie haben genug Einkommen, und sie sind nicht kriminell, sind anständig und warum soll man diese Leute abschieben? Sprecher: Seit 2004 hat die Familie ein dauerhaftes Bleiberecht. Sie lebt in Hamburg in einer 3-Zimmer-Wohnung. Der Vater ist Vorarbeiter in einem Reinigungsunternehmen. Die Mutter ist von ihrer Krankheit genesen. Bald wird Susi Kentikian den deutschen Pass bekommen.
Upload Datum: 06.03.2014

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Dokublog Autor Dieterjandt

Zum Autor: freier Autor + Journalist, seit ca. 15 Jahren für den Hörfunk tätig: Feature, Hörspiele, kulturelle Beiträge, Reportagen auch aus Thailand, Laos und China

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