Neben den öffentlich-rechtlichen und den privaten Radiostationen in Deutschland gibt es auch noch die freien Radios. So wird das duale Rundfunksystem von Sendern ergänzt, die keine Rundfunkbeiträge einnehmen und auch keine Werbung ausstrahlen. Freie Radios sind ein unverzichtbarer Bestandteil der Gegenöffentlichkeit und natürlich auch auf kulturellem Gebiet aktiv. Das Hallenser Radio Corax (959.radiocorax.de) bringt in seiner Sendungsreihe „Freispiel“ beispielsweise jeden Sonntag zwischen 20 und 21.30 Uhr „Ungewöhnliches im Radio, das sich früher möglicherweise Hörspiel nannte“. Ganz sicher eine gute Alternative zum Tatort.
Auch die theoretische Auseinandersetzung mit dem eigenen Medium kommt im Bereich der freien Radios nicht zu kurz. 2009 und 2010 wurde im Freien Sender Kombinat Hamburg (www.fsk-hh.org) das „Freie Sender Kolleg“ durchgeführt. Den dortigen Debatten verdankt sich die Ausarbeitung des thematischen Schwerpunkts Radio, den die seit 2006 im Hamburger Textem Verlag erscheinende Zeitschrift „Kultur & Gespenster“ für ihre im Herbst erschienene 14. Ausgabe gewählt hat.
Im Editorial zu dem Hörfunk-Extra, das die gesamte zweite Hälfte der rund 354 Seiten von „Kultur & Gespenster“ Nr. 14 umfasst, schreiben Ole Frahm, Torsten Michaelsen und Andreas Stuhlmann: „Die folgenden Beiträge widmen sich der emanzipativen Wirkung des Radios, welche nur durch die Vergegenwärtigung der gespenstischen, unheimlichen und paranoiden Momente des Mediums und der mit ihm verbundenen Projektionen und Ereignisse zum Tragen kommt.“
Und tatsächlich wird im Editorial nicht zu viel versprochen. Begonnen wird das Dossier historischer und vor allem aktueller Artikel von dem kurzen Text „Spuk und Radio“, den der Schriftsteller und Philosoph Günther Stern (der sich später Günther Anders nannte) 1930 veröffentlichte. Stern geht auf den medientheoretischen Hintergrund von im Radio gespielter Musik ein und macht dabei drei befremdliche, spukhafte Aspekte aus. Erstens die Zerstörung der „Raum-Neutralität“ des Musikstücks, zweitens die Verfielfältigung des gleichen Stücks in einer Unzahl von Empfangsgeräten und drittens den rechtmäßigen Anspruch jeder dieser Kopien, „das Stück selbst zu sein“. Mit diesen Überlegungen erinnert Stern den Leser direkt wieder an einen Gedanken des Schweizer Kulturphilosophen Max Picard, der dem Radio-Editorial von „Kultur & Geister“ Nr. 14 als Zitat vorangestellt ist. Es handelt sich um einen kurzen Auszug aus Picards „Die Welt des Schweigens“ (1948). In dem Abschnitt beschreibt er das eigenartige Gefühl eines Passanten, dem aus verschiedenen offenenen Fenster fetzenweise die gleiche Tschaikowsky-Symphonie entgegenfällt. „Überall, wohin er sich bewegt, ist schon diese Musik, sie ist allgegenwärtig, es ist, als ob sich der Mensch nicht fortbewegt hätte, es ist, als ob er immer auf der gleichen Stelle bliebe, obwohl er sich fortbewegt: die Realität der Bewegung wird unwirklich gemacht. Unabhängig von Raum und Zeit, selbstverständlich wie die Luft, erscheint das Geräusch des Radios.“
Sowohl Stern als auch Picard beschäftigen sich mit Phänomenen, die dem institutionalisierten Rundfunk zuzuschreiben sind. Was vor dessen Etablierung war, resümiert Jeffrey Sconce. Seine 2000 bei Duke University Press (Durham) erschienene Dissertation „Haunted Media: Electronic Presence from Telegraphy to Television“ haben Andreas Stuhlmann und Ole Frahm erstmals auszugsweise ins Deutsche übertragen. Die von ihnen ausgewählten Ausschnitte handeln zum einen von der Frühzeit des Radios, genauer: von der Zeit des „wireless radio“. Mit diesem Begriff bezeichnet Sconce das rege Funkertreiben, bei dem die einzelnen Stationen (unter denen auch zahlreiche Amateurfunkstationen waren) sowohl als Sender als auch als Empfänger fungierten. Im darauf aufbauenden zweiten gewählten Ausschnitt widmet Sconce sich dem auf das „wireless radio“ folgenden „broadcasting“, dem gewöhnlichen Rundfunk. Fokussiert wird zunächst das 1938 von Orson Welles inszenierte Hörspiel „War of the Worlds“ (nach einer Romanvorlage von H.G. Wells). Anknüpfend an die Invasion der Marsianer in einem Live-Hörspiel, analysiert Sconce die Katastrophenfaszination und ihr Verhältnis zu den Macht ausstrahlenden Rundfunkanstalten. Der Text ist kurzweilig, natürlich auch spukbezogen. Andreas Stuhlmann bezeichnet in seinem Vorwort zum Artikel Sconce als einen der „wenigen Medienwissenschaftler, die in der Nachfolge Marshall McLuhans Interessantes zuwege bringen“.
An aufschlußreichen und interessanten Texten gibt es dessen ungeachtet in der 14. Ausgabe von „Kultur & Gespenster“ noch eine ganze Menge. Einer von ihnen heißt „Radio und Schizophrenie. Anmerkungen zu Daniel Paul Schrebers Radiotheorie avant la lettre“ und stammt von Ole Frahm. Frahm geht auf wesentliche Fragen ein, die das Radio als Massenmedium mit sich bringt. Z.B. die, ob das Radio einen faschistischen Kern birgt. Der Autor untersucht, welche indirekten Aussagen das Radio als Massenmedium vermittelt und was es eigentlich mit dem (spiritistischen) Medium im Medium auf sich hat. Er erklärt, warum die 1903 vom kurzzeitigen sächsischen Gerichtspräsidenten Schreber veröffentlichten „Aufzeichnungen eines Nervenkranken“ ein radiotheoretisches Frühwerk sind. Auch warum sie kaum als solches gelesen wurden, legt Frahm offen – und liefert dabei gleich einen pointierten Ritt durch die deutsche und internationale Hörspieltheorie.
Es gibt natürlich noch viel, viel mehr Futter für am Radio Interessierte, auch „On Air“ ein längeres erzählendes Gedicht Brandon LaBelles, vom radio- und soundartaffinen Berliner Verlag errant bodies press. Sogar außerhalb des expliziten Radioteils gibt es Radio, denn im ersten Teil ist Frieder Butzmann – auch im Hörfunk ein umtriebiger „Crachmacheur“ – mit seiner 97er Story „Die Hamburg Connection“ vertreten.
Auf dem Cover ist ein filigran mit Faden und Nähmaschine bearbeitetetes Foto von einem Sendemast zu sehen. Aus dieser trotz ihrer Statik eigenartig flirrend wirkenden Werkreihe gibt es im Heftinneren mehr zu sehen. „Radiotürme“ (2012; Maschinennaht, Faden, Papier, A4) stammt von der Hörspielerin und Musikerin Michaela Mélian. Präsentiert in klarem und ansprechenden Layout, erfüllen die Texte tatsächlich ein Versprechen, das schon im Titel der Zeitschrift aufflammt. Dass nämlich „Kultur & Gespenster“ Nr. 14 den Anspruch hat, das Transzendente und das Unheimliche im Medium Radio ausfindig zu machen und von undogmatischen Standpunkten aus zu analysieren. Für den Rundfunk zum Hören, der seit diesem Jahr in Deutschland ein 90jähriges Bestehen vorweisen kann, war eine solche multiperspektivische Betrachtung überfällig.
„Kultur & Gespenster 14. Radio“; 354 Seiten, 16 Euro, ISBN: 978-3-941613-06-5, Textem Verlag, Hamburg, 2013