Kultur–Radio-Kunst
In den Anfängen des Rundfunks in Deutschland wurde die Frage heftig diskutiert, ob das Medium eine eigene Kunstform entwickeln könnte, und wie die sich anhören würde. Es wurden Analogien bemüht: stets wenn ein neues Medium mit einer neuen Technik auf den Plan getreten wäre, seien es Buchdruck, Siebdruck, Film oder Fotografie, habe sich auch eine neue Kunstform entwickelt. Medien als Katalysatoren von Kunst. Warum sollte das nicht auch im Rundfunk gelten?
Es entbrannten Diskussionen um und Versuche mit Rundfunkmusik, Rundfunkoper, Hörspiel, Hörbild, Feature und anderen Formen. Die Jagd nach dem radiophonen, rundfunkeigenen Kunstwerk begann. Montagetechniken sollten helfen, der Umgang mit O-Tönen, später mit Raumklang: Stereo, Kunstkopf, 5.1. Mit live-Elementen wurde experimentiert: musikalische Improvisationen, music minus one, Hörerbeteiligung, Stegreiferzählung, freie Rede, Diskussion, Talkshow etc.. Doch was blieb davon im kulturellen Gedächtnis? Wenig bis nichts.
Radio ist ein flüchtiges Medium, darin liegt sein Reiz, aber auch seine Begrenzung. Für einen Moment erlangt es unsere Aufmerksamkeit, um gleich wieder zu verschwinden. Es hat die Faszination von snapchat oder den Instagram-Stories. Die Teile des analogen Radios, zu denen auch Höspiel, Ars Acustica und Feature gehören, sind kontextgebunden, eingebettet in vorausgehende Nachrichten und folgende Musiksendungen. Sie stehen nicht in Konkurrenz zu Fernsehen, Buch, Theater oder Kino, sondern zum restlichen Programm, ohne das sie nicht denkbar wären. Schon immer gab es Versuche, die künstlerischen Programmteile ihrer Vergänglichkeit zu entreißen: In den fünfziger und sechziger Jahren veröffentlichten manche Sender Hörspielmanuskripte auch in Druckform. Der Süddeutsche Rundfunk tat dies teilweise zusammen mit NDR und WDR in seinen jährlichen Hörspielbüchern, es gab die Reihe „Stimmen der Zeit“, und diverse Einzelveröffentlichungen.
Damit wechselte aber auch der Kontext, in dem das Hörspiel oder seltener das Feature nunmehr auftraten. Doch der Buch-Markt hat seine eigenen Gesetze, stellte sich rasch heraus. Gedrucktes Radio konnte da nicht mithalten. In den Sechziger Jahren stellten die Sender diese Aktivitäten daher wieder ein. Während Publikationen auf Schallplatten bis in die siebziger Jahre eine absolute Ausnahme blieben, reüssierten die Kassetten- und CD-Editionen schon eher. Der Markt entwickelte sich recht dynamisch in den Musikgeschäften, wie in den Buchläden. Doch bestimmte er zunehmend selbst, welche Produktionen kommerziell erfolgversprechend sein würden, ermunterte die Hörspielredaktionen zu entsprechenden Adaptionen und begann mit Eigenproduktionen – wie „Die 3 Fragezeichen“, „Benjamin Blümchen“ o.ä. Inzwischen sind Hörbücher ein unumstrittener und fester Bestandteil des kommerziellen Marktes.
Das Internet bietet ganz neue Möglichkeiten, der Flüchtigkeit entgegenzuwirken. Audios und Manuskripte lassen sich dort leicht verbreiten. Die Autoren tun es auf ihren homepages, die Sender auf den ihren. Die Podcast-Angebote ufern aus und werden schier unübersichtlich. Und erneut ändert sich der Kontext, in dem einstmalige Radioprodukte ihr Publikum erreichen. Die Angebote der Audiotheken und Mediatheken der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten z.B. konkurrieren nicht mit dem Buchmarkt, nicht mit den Hörbüchern auf CD, auch nicht mit dem linearen Programm, sondern mit anderen Internet-Angeboten, die nur einen Mausklick entfernt sind: spotify, deezer, SoundCloud, mixcloud, 4000Hertz u.a.. Und wieder ließe sich die Frage stellen, ob sich in diesem neuen Medium eine neue Ästhetik herausbilden ließe, eine Ästhetik des Internets. Einzelne Versuche gab und gibt es, doch treffen sie auf wenig Resonanz und diskutiert werden sie selten. Mittlerweile allerdings haben sich in eiigen podcasts neue Erzählweisen abgezeichnet, die unter dem Stichwort storytelling auch Einzug in die Debatten um modernes Radio halten. Aber ist das, was aus den USA herübergeschwappt ist, so neu? Oder handelt es sich nur um die Wiederbelebung des einst vielgescholtenen „german narrator“?
Inzwischen werden Medien weniger als Katalysatoren von neuen Kunstformen gesehen, denn als Vermittler von Inhalten. Das Radiophone erscheint aus dieser Perspektive als eine Zutat, allenfalls ein Mehrwert, wie eine gelungene Kameraeinstellung, eine besondere Theaterinszenierung, eine ausgefallene Schrifttype. Doch eine Geschichte gilt wegen ihres Plots als spannend, ein Dialog wegen seiner Dialektik als anregend, eine Musik wegen ihrer Melodieführung, ihres Rythmus – gleich in welchem Medium sie verbreitet werden. Das Medium bestimmt den Rezeptionskontext, aber nicht den Inhalt. Die Botschaft des Mediums ist immer nur das Medium selbst. Günter Eich und Ingeborg Bachmanns Hörspiele blieben in Erinnerung, weil sie gedruckt wurden, und Ernst Schnabels Feature „Anne Frank. Spur eines Kindes“ erging es ebenso.
Doch gäbe es die Bücher nicht ohne die vorausgehenden Radio-Produktionen. Andererseits erfordert jedes Medium seinen eigenen Zugang. Und sein jeweiliger Kontext entscheidet über den Erfolg eines Projekts mit. Im analogen Radio braucht es eine eigene radiophone Gestaltung von Hörspiel und Feature, die nicht unbedingt im Internet oder als Hörbuch im Buchhandel in gleicher Weise funktioniert. Die unterschiedlichen Kontexte generieren unterschiedliche Hörgewohnheiten und -bedürfnisse. Die Bedeutung des Radios, das inzwischen in den verschiedensten Medienkontexten aktiv ist, seine Wahrnehmung in der Gesellschaft und seine Stellung in der Kulturlandschaft verändert sich dadurch dramatisch. Konkurrenz kann das Geschäft beleben, kann aber auch zu einem Verdrängungswettbewerb führen, der wirtschaftliche Monopole und kulturelle Monotonie zur Folge haben könnte.
Bislang galt die mäzenatische Aufgabe des Rundfunks, die Auftragsvergabe an freie Autoren, Komponisten, Sprecher, Musiker, Regisseure, auch als Teil der gesellschaftlichen Verantwortung des Mediums gegenüber ihrer Kultur. Aus Hörspielen entstehen Theaterstücke und Romane, die Recherchen für ein Radiofeature münden in ein Buch oder einen Film, ars acustica Werke bereichern Museen und Konzertsäle. Radiokunst ist nicht nur für das Radio selbst von Bedeutung, sie ist zugleich ein Kulturfaktor von gesellschaftlicher Tragweite. Die gilt es neu zu vermessen. Wenn Kultur und Gesellschaft sich wandeln, können auch Radio und Kunst nicht bleiben, was sie sind. Ihr Verhältnis muss neu justiert werden. Wir wollen daher Kulturschaffende, Künstler, Autoren und Komponisten nach der Bedeutung des Radios für Kunst und Kultur im 21. Jahrhundert fragen.