Der Unterschied

08.01.2015

Dieser Post ist eine Provokation und ein Experiment, bei dem ihr mitmachen könnt. Nehmt euch eine beliebige Episode von: 99 Percent Invisible, Radiolab oder This American Life. (Serial funktioniert auch, aber ein wenig anders) Hört für ein paar Minuten in die Folge rein. Danach nehmt ihr euch ein deutsches Radio-Feature und hört dort wieder ein paar Minuten rein. Ihr könnt zum Beispiel die Features von SWR2 nehmen, oder euch das ARD-Radiofeature anhören. Der erste Höreindruck? Die Programme haben alle verschiedene Sprecher, O-Töne, mal viel Musik - mal weniger, mal viel Sound Design - mal weniger. Vielleicht arbeiten die US-Kollegen intensiver mit Sound Effekten und (U-)Musik als Klangbetten, gerade bei Radiolab und 99PI fällt mir das immer wieder auf. Darin unterscheiden sie sich aber nicht so stark. Wo liegt der Unterschied? Ein überstrapaziertes Schlagwort: Storytelling. In allen vier US-Shows werden Geschichten erzählt, von starken Protagonisten, die etwas Besonderes erlebt haben. Im Reportagen-Stil werden uns Ereignisse aus dem Leben einer Person nahegebracht, teilweise so nacherzählt, als würden sie gerade passieren: Kino im Kopf. Das gibt es im deutschen Radio auch. Aber vielleicht wird Storytelling bei uns nicht so strikt durchgezogen: This American Life war in seiner Anfangszeit komplett auf Human-Interest-Storys beschränkt. Politik, Wirtschaft? Gab es nicht. Das hat sich im Laufe der Zeit geändert: Heute berichten die Macher nicht nur über verrückte Weihnachtsgeschichten, sondern auch über den Irakkrieg oder die EU-Krise. Und es funktioniert - für viele Hörer, nicht für alle. Bei allen Shows steht die Story, mit Protagonisten und Action, als Struktur im Vordergrund. Egal ob lustig oder ernst – es gibt keine thematischen Grenzen für Storytelling. Ich würde aber nicht sagen, dass uns das allein unterscheidet. Denn wir haben im deutschen Radio auch immer wieder Stücke, die Geschichten erzählen. Große - kleine, kurze und lange. Ein neues, spannendes Beispiel dafür ist Einhundert auf DRadio Wissen. Der \"Zwang\" zum permanenten Erzählen ist nicht immer hilfreich: Häufig wird statt Storytelling Storymaking betrieben. Außerdem werden viele Storys nicht neutral erzählt - sondern ganz persönlich und mit einem Ich, das durchaus streitbar ist. Auch die Frage, für welche Zielgruppe (Gehalt? Politische Orientierung? Bildung?) man eine Geschichte erzählt, beeinflusst stark, was und wie erzählt wird. Das kann alles viele Gefahren mit sich bringen. Shows mit Hosts statt Sendungen mit Moderatoren Eigentlich möchte ich aber auf einen anderen Punkt hinaus: This American Life hat Ira Glass, Radiolab hat Jad Abumrad und Robert Krulwich, 99 Percent Invisible hat Roman Mars und Serial hat Sarah Koenig. Die vier Beispiele sind nicht nur Sendungen, in denen bestimmte Inhalte gespielt werden. Es sind Shows, die von Menschen gehostet werden. Ich denke zum Beispiel bei Radiolab intuitiv nicht an eine bestimmte Folge, sondern an Jad und Robert. Auch die Reporter, deren Namen ich mir merke, sind greifbare Menschen, keine Instanzen oder Autoritäten. Ihre Stimme, ihre individuelle Erzählweise und damit ihre Persönlichkeit und das Gefühl, das sie damit übertragen - das bleibt bei mir am Ende hängen. Damit erzähle ich eigentlich nichts Neues: Radio erkennt man am besten über die Moderatoren und Personen wieder. Das wissen wir \"hier\" auch. Trotzdem haben wir im deutschen Radio nur wenige Shows im Serienformat, die aus längeren und aufwendig produzierten Beiträgen bestehen und die von nur einer Person gehostet werden - ohne aktuelle Chart- oder Weltmusik als Trenner. Wir haben Moderatoren für Morningshows, Talksendungen, Magazine und so weiter. Aber sonst? Um es noch mehr zuzuspitzen: Wir haben in Deutschland keine Shows im Radio, sondern fast nur Sendungen.

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