Als ich heute durch Schöneberg lief, standen vor einem Trödelladen Schallplatten auf dem Bürgersteig. Ein Zettel darauf: „Zu verschenken“. Eine nahm ich mit, auf der stand: „Philips präsentiert: Super STEREO-Demonstration“. Ein großartiges Stück Radio- (oder Kommerz-?)geschichte, und dann auch noch geschenkt (Radiogeschichte?: geschenkt!).
„Stereo! Bringt den Raumklang in Ihr Wohnzimmer“, heißt die erste gesprochene Textzeile auf der Platte. Dann blubberts und ploppts links und rechts in den Boxen, und der Sprecher fährt fort: „Sie haben sich entschlossen, zuhause zu bleiben, sitzen bequem in Ihrem Sessel, und Sie erleben durch das technische Wunder STEREO das sensationelle Gefühl, wirklich dabei zu sein!“ Und weiter: „Wenn Sie jetzt Ihre Augen schließen und zuhören, glauben Sie wirklich, im afrikanischen Dschungel zu sein...“ (ich hab's mal online gestellt)
Schön an dieser Platte ist nicht nur, daß der damalige Hörer als rein stationärer Sesselsitzer gedacht wird. Hübsch ist auch, daß „Stereo“ Anfang der Siebziger scheinbar erklärt werden musste und einer Übersetzung bedurfte: „Raumklang“. Am interessantesten aber finde ich, daß dieser „Raumklang“ vorzüglich einem dienen sollte: Der Evokation von „Wirklichkeit“; dem „Dabeisein“ bei gleichzeitiger Abwesenheit: „Sie glauben WIRKLICH, im afrikanischen Dschungel zu sein...“
Mono bedeutet also Oberfläche, Stereo Tiefe (Raum); Mono Abwesenheit; Stereo Dabeisein. Stereo Wahrheit; Mono Lüge.
Eine der ersten stereofonen Dokumentationen, Peter Leonhard Brauns „Hühner“, schon schließt (schelmisch? autoritär? pädagogisch? autopoetologisch? clever zumindest) die Antipoden „Wahrheit – Lüge“ mit den technischen Ausdrucksformen „Stereo – Mono“ kurz. Der Anrufung des Hühnerhofes als Idylle sind zu Beginn der Sendung Mono-Atmos unterlegt; die Wahrheit des Hühnerhofes als Schlachtfeld und Legebatterie erscheint (im Laufe der Sendung) im Stereo-Panorama.
Die Stereo-Aufnahme als Dingknabe der „Realität“ war tatsächlich eine Entdeckung des frühen Radiofeatures. Seine intelligentere Schwester, das Hörspiel, verwendete Stereo für das Gegenteil: Mithilfe der durch Stereo konstruierbaren RÄUME wurde die Welt im Hörspiel erst einmal pinkfloydesk surreal, bewußtseinserweiternd, transzendent, irreal: In jedem Fall aber der schnöden Realität (oder gar „Wahrheit“) entbunden. (Diese Information entnehme ich einem artmix-gespräch mit Johannes Ullmeier, das auf der GROSSARTIGEN, allen Radiosendern zur Nachahmung empfohlenen Seite des HÖRSPIELS des Bayerischen Rundfunks downloadbar ist.)
Daß das Feature Brauns, Schütze-Quests, Bauernfeinds et al voll auf Realität setzte, ist ja auch erst mal OK. Die Herren hatten ein neues Spielzeug entdeckt, und noch beinahe jeder neu sich etablierenden ästhetischen Strömung, sei's der Naturalismus, der Surrealismus, die Gruppe 47 (oder whatsoever): ging es um eine bessere & trefflichere „Abbildung von Wirklichkeit“.
Das besondere am Feature aber ist, daß es sich in seltener Arglosigkeit Anfang der Siebziger für die Abbildung der ÄUSSEREN Wirklichkeit entschloß. Während das Hörspiel mit den technischen „Neuerungen“ spielte wie der Welpe mit dem Wollknäuel, machte das Feature gravitätisch ernst: Das Mikrofon war ihm Authentizitätsgarant, Wahrheitswünschelrute und Realitätsapparatur. Damit blieb (und bleibt) das Feature weit hinter jedem medienwissenschaftlichen Diskurs zurück (und vielleicht ist das einer der Gründe, warum damals wie heute nicht über das Feature geschrieben wurde / wird). Das stereophone Mikrofon war (und ist) ihm der Zauberstab, der zufällig aufgefangene Lautäußerungen der Welt (im Kontext der sich endlos selbstnobilitierenden „Kunstform Feature“) in Wahrheit verhext(e). Es war (und ist) der Totempfahl einer Randgruppen-Community, die nicht müde wird, sich selbst zu beschwören: „Ja: Das, was wir hier hören, ist ECHT.“
Was aber ist „echt“ an einer Tonaufnahme? Ein Sony ECM 957 oder ein BeyerDynamic MCE 82 auf die selbe Klangquelle gehalten, bringen vollständig andere Töne hervor (ganz zu schweigen vom Rode NT 55 mp). Welcher davon ist „echter“? Und sprechen Menschen, wie sie „in Echt“ sprechen, wenn ein Fremder ihnen ein Mikrofon unter die Nase hält und ihnen Fragen stellt? Darf ich eine Atmo unter einen O-Ton legen oder gar eine Film-Musik, wenn ich etwas „Echtes“ abbilden möchte?
Wer solche Fragen nicht bedenkt, ist naiv; wer solche Fragen hörenden Ohres und sehenden Auges ignoriert, ist Ideologe.
Weil die Voraussetzungen der Aufnahmen und die Absichten der Produzenten und Teilnehmer von vornherein klar sind, ist jede Big-Brother-Box und jedes DschungelCamp noch „wahrer“ (oder zumindest ehrlicher) als das (gemeinhin) verkleisterte Radiofeature, das, während es Töne und Szenen manipuliert, so tut, als sei es einzig der Wahrheit verpflichtet.
Manipulation an sich ist nichts Schlimmes; ich goutiere sehr die Zehnspurmischung zur Evokation des Amazonasflusses. Das Problem des Features aber ist, daß es seine Gemachtheit (in der Regel und anders als das Hörspiel) nicht markiert. Im Kontext einer zusehends monströser sich gerierenden Medienwelt, die aus tausenderlei Handycams Wahrheit meint konstruieren zu können und selbst in gecasteten Shows noch auf Authentizität, auf das LIVE-Erlebnis und also: „das echte Gefühl“ setzt, wäre das aber gerade die Chance eines intelligenten radiophonen, heisst: Bilderlosen Genres: In die Zwischenräume der Information zu dringen, seine Gemachtheit zu markieren und das ERZÄHLEN zu nutzen, um die Polyvalenz der Welt zum Schweben zu bringen.
Ob stereo oder mono spielt da nicht wirklich eine Rolle.