Die Watchdogs sind los

Relotius und die Folgen – Warum Autor*innen weiter Vertrauen brauchen

„Scripted Reality“, „Faction“, „Nonfiction Novel“, „Tatsachenroman“ – so und ähnlich  ist die Verschwisterung von Realität und Erfindung genannt worden, aber diese Etikettierung führte immer nur zu neuen Missverständnissen. Ebenso ergeht es Radiobegriffen wie „Reportage“, „Hörbild“, „Audiofeature“, „Akustisches Feature“, „Autorenfeature“, „Dokumentarbericht“, „Dokumentation“, „Nicht-fiktionales Hörfunk-Genre“.

Truman Capote’s Erfolgsroman „In Cold Blood“ hatte in der deutschen Übersetzung („Kaltblütig“) den Untertitel „Wahrheitsgemäßer Bericht über einen mehrfachen Mord und seine Folgen“. Der Kommunikationsforscher Phillip K. Tomkins schrieb in einer ersten Kritik nach Erscheinen des Originals 1965 unter der Überschrift „In Cold Fact“ für die Zeitschrift „ESQUIRE“: „By insisting that ‚every word‘ of his book is true he has made himself vulnerable“. In diesem Sinn war auch DER SPIEGEL, das „Deutsche NACHRICHTEN-Magazin“, dessen Statut aus dem Jahr 1949 kategorisch verlangt, alle „Informationen und Tatsachen“ im Blatt müssten „unbedingt zutreffen“, für die erfindungsreichen Texte eines Claas Relotius der falsche Ort. 

Mein Freund Egon Halbleib, Psychotherapeut und engagierter Radiohörer, spendierte mir für diesen Blog ein Zitat aus der Einleitung zu Richard Friedenthals „Luther“-Buch: „Im Unterschied zum Historiker darf sich der Biograf auch Einzelheiten erlauben, die sich hätten ereignen können, die aber nicht als solche belegt sind, weil hier die historische Figur Fleisch und Blut bekommt“. Und der Medienforscher Patrick Conley, der ein Buch über die Geschichte des Radiofeatures in der DDR verfasst hat („Der parteiliche Journalist“, 2012) meinte in einer Mail: „Wenn man etwas an Relotius’ Umetikettierung von Erzählungen in ‚Reportagen‘ kritisieren kann, dann, dass er damit Klischees mit dem Stempel der Authentizität versehen hat“.

Aus der Aufarbeitung der Affäre um diese ganz oder in Teilen gefälschten Hybridtexte – „Supergau!“ „Albtraum!“ – erfahren wir in SPIEGEL-Online, Relotius habe während seines „Geständnisses“ wörtlich gesagt: „Es ging nicht um das nächste große Ding. Es war die Angst vor dem Scheitern“, und der „Druck, nicht scheitern zu dürfen, „wurde immer größer, je erfolgreicher ich wurde“. Wieviel unterschwelliger Erwartungsdruck aus der Hamburger Redaktion auf den zuvor Erfolgreichen einwirkte, steht auf einem anderen Blatt. Allerdings schrieb mir der Featurekollege Lorenz Rollhäuser, er habe seine Radiostücke „bisher immer ohne Verrenkungen, die mir Kopfschmerzen bereitet hätten“, erzählt. „Wenn sich jemand eine Geschichte zusammenlügt oder -biegt, fehlt mir ehrlich gesagt das Mitleid, wenn sein Vorgehen auffliegt – obwohl ich um den Druck weiß, dem er ausgesetzt ist. Aber diesen Druck spüren wir doch alle“.

Im Unterschied zum journalistischen Berichterstatter, der – oft zu Unrecht – den Adel der strikten Objektivität in Anspruch nimmt, leben Autor*innen für die Dauer der Recherche und der Produktion in ihrem Thema. Sie saugen es auf; sind Augen, Ohren, Übersetzer, Katalysatoren für das Publikum. Neben dem Alltagszwang, ausreichend Geld zu verdienen, entwickeln viele von uns mit jedem Auftrag eine höchst private Obsession, ja eine Art „Vampirismus“ – so jedenfalls beschrieb Maike Albath in einer Buchkritik für den Deutschlandfunk Capote’s mehrjährige Arbeit an „Kaltblütig“. Der Schriftsteller selbst: „Es war, als stünde im Nebenzimmer eine Bonbonniere, der ich nicht widerstehen konnte. Die Bonbons waren Fakten, über die ich statt Fiktionen schreiben wollte“. Mit der fiktionalen Belletristik war er „in eine Sackgasse geraten“ (aber auch seine „Fakten“ hielten später nicht unbedingt jeder Nachprüfung stand). Das erlebnishafte Eintauchen in eine fremde, „wahre“ Lebens- und Gedankenwelt ist eben immer individuell, nicht mehrheitsfähig und nur in Teilen nachprüfbar.

Nun also, da das hochbegabte Kind Relotius in den Brunnen gefallen ist, sind die Kolleginnen und Kollegen des SPIEGEL „tief erschüttert“, „fassungslos“. Es fühle sich an „wie ein Trauerfall in der Familie“, das Blatt bittet um Entschuldigung und verspreche, die Arbeit der Autoren in Zukunft „dank der vielen Möglichkeiten des Internets“ zu überprüfen. Eine Kommission wird eingerichtet. Sie wird das Unterste nach oben kehren, damit dergleichen nie…nie wieder geschieht. Die Auflistung der inkriminiertenTexte auf SPIEGEL-Online erinnert an die Beute eines Plagiatjägers der Plattform „VroniPlag“. Auch für das Schweizer Magazin „Reportagen“ hat R. zwischen 2013 und 2016 fünf Artikel geschrieben.„Wir werden diese Geschichten nachträglich noch einmal einem umfangreichen Faktencheck unterziehen“, heißt es  dazu im Netz.

Die Gerichtsverhandlung ist eröffnet. Womöglich trifft investigativer Furor die gedruckte oder gesendete Story demnächst schon im voraus – siehe den Gastbeitrag im Programmheft des Deutschlandfunks von Dr. Christine Horz (Mai 2018): „Das Publikum kann eine Watchdog-Funktion erfüllen, die eine Medienaufsicht aus Nutzersicht erlaubt“. So sollte das Publikum auch die Möglichkeit haben,  v o r  der Ausstrahlung eines Beitrags einbezogen zu werden, etwa durch Dialog mit Journalisten oder Umfragen zu neuen Formaten in den Chat-Foren der Intensivnutzer. Externe Evaluationen der Sendeinhalte durch ein kommunikations- und medienwissenschaftliches Fachgremium“ sollten dies ergänzen. Ein Software-Entwickler aus Düsseldorf postete zur Relotius-Debatte an den SPIEGEL, er habe „die Vision, dass jegliches Rohmaterial, das in den Nachrichten auftaucht, zur späteren eventuellen Kontrolle in eine Blockchain abgelegt wird, sodass man als interessierter Leser sich bis zu den Quellen eines Artikels vorarbeiten kann“.

Watchdogs allerorten. O du armer kleiner Autor mit dem Mikro in der Hand, den ich in der Zeitschrift „Cut“ vor Jahren so beschrieben hatte: „Als mitdenkendes und mitleidendes Wesen taucht der Reporter“ – sprich: das Multifunktionswesen „Featureautor“ – „ein in die Wirklichkeiten anderer, ein Fisch unter Fischen in fremden Gewässern. Seine Unabhängigkeit – nicht zu verwechseln mit dem buchhalterischen, zu Indifferenz oder Missbrauch einladenden Begriff ‚Objektivität‘ –  erlaubt ihm, versuchsweise die Position der anderen Seite einzunehmen, und sei es die von Jack the Ripper“. Und noch dies: „Als typische Einzelgänger, besessen von ‚ihrem‘ Thema“, seien diese Zunftgenoss*innen „immer in Gefahr, sich zu verrennen. Erfahrene Fluglotsen“ – ich meinte wohl Redakteure – „müssen sie dann behutsam zur Erde zurück dirigieren“.

Autor*innen brauchen Vertrauen, auch Hilfestellung. Aber nicht Überwachung! Noch fliegen wir zuweilen …

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