Fiepen, Plätschern, Französisch – und Aberglaube

Vom Sendersuchen und -finden. RR #1: Revoltenradio

„Revoltenradio? Da kommt ständig so ein fieses Fiepen, supernervig!“ Nur Stunden nach der On-Air-Eröffnung der RadioRevolten 2016 war das mein erster Kontakt mit der Festivalfrequenz. Meine Freundin hatte als morgendliche Pendlerin beim Zappen durch die mitteldeutsche Radiolandschaft zwischen MDR Kultur und Radio Brocken die 99,3 MHz entdeckt … und nach kurzem Hören einen Ausschaltimpuls empfunden, der jeden reichweitenlüsternen Radiomachenden zum Weinen bringen würde. Dummerweise funktioniert das Speichern von Sendern bei ihrem Autoradio nicht mehr, sodass sie beim Sendersuchlauf jedes Mal an der 99,3 und den seltsamen Geräuschen vorbei kam. Entsprechend viel Begeisterung kam auf, als ich ihr abends im Auto vom bevorstehenden Festival erzählte.
 
Ein paar Tage später: Eine Sprachnachricht per WhatsApp, diesmal also mit Audio-Beweis – Sanftes Bachplätschern aus dem Autoradio, und meine Freundin dazu nur: „also hier läuft gerade Revoltenradio auf 99,3 MHz, und im Moment statt Fiepen wenigstens ein Bachplätschern.“ Neugierig fing ich an zu googeln, und eine Minute später hörte ich dem Live-Stream des Festivalradios zu: Schnipsel aus französischen Sendungen, ab und zu unterlegt mit Rauschen und anderen Tönen aus der Rundfunktechnik-Tonkonserve. Dann: Wechsel zu englischem Dialog. Beim französischen Teil konnte ich es noch auf meine überschaubaren Französisch-Kenntnisse schieben; hier gab es definitiv kaum Zusammenhang und keinen erkennbaren Bezug auf irgendein Thema. Einfach ein Klangteppich aus dem Äther (bzw. Breitbandanschluss), erstaunlich gut geeignet zum Arbeiten.
 
Wieder Tage später, abends. Ich schalte das Revoltenradio ein. Ein Mann singt auf englisch (mit deutschem Akzent) etwas schief ein melancholisches Lied in ein übersteuerndes Mikrofon. Zwischendurch kläfft ein Hund, den der Mann darauf mit „Shut up, you!“ ruhig stellen will. Danach: Elektrisches Surren im Bassbereich. Jemand trägt jetzt einen deutschsprachigen Text über einen Besuch auf der Erde vor. Der Abschnitt über Teleportieren wird mit Oszilliergeräuschen unterlegt, die Stimme eindringlicher und irgendwie … intimer. Jemand hustet im Hintergrund, anscheinend ist das live. Jetzt wird es zur Parabel auf militärischen Gehorsam …? Vielleicht. Vielleicht hab ich es auch nur nicht verstanden. Egal, jetzt sind eh nur noch zwei harmonisch überlagerte Schwingungen zu hören. Erinnert irgendwie an Modem-Zeiten.
 
20 Minuten später unterhalten sich die Moderatoren (tatsächlich live) mit dem Vortragenden und dem Schöpfer des ursprünglichen Texts auf Englisch. Das Stück ist ihm zufolge eine Parabel auf Aberglaube in der Welt. Entspannte, ruhige Stimmen, die nach der Performance das Gehörte besprechen und in die Philosophie abdriften. Im Hintergrund Gespräche, Stimmen, Baratmosphäre. Ich sitze derweil mit dem Tablet auf der Couch und fühle mich so, als ob ich stumm an der Nachbesprechung der Show in einer Kneipe teilnehme. Wie viele Leute dieses Gefühl wohl in diesem Moment teilen, selbst vor dem Radio/Livestream sitzen … und ob es so wenige sind, dass sie problemlos alle an diesen imaginären Kneipentisch passen würden?
 
Während meiner Arbeit beim Masterstudiengang ONLINE RADIO habe ich Radio jahrelang durch ein Kaleidoskop betrachtet, das mir alle möglichen Facetten dieses wundervollen Mediums zeigte – aber auch meine Meinung darüber geprägt, welche davon nur begrenzt zusammen passen: Komplizierte Formate und Massengeschmack, öffentlich-rechtliche Sender und unbürokratische Innovation, Privatradio und Formatentwicklung ohne aufs Budget zu schielen, freies Radio ohne hin und wieder „komm doch mal auf den Punkt!“ in die Lautsprecher zu brummeln. Worauf sich alle einigen konnten: Radiokunst im regulären Programm ist … schwierig. Nennen Sie mich Kulturbanause, aber Radiokunst erschloss sich mir stets nur über zwei Wege: Als eine Anspielung gespickt mit Insidern (wie das geniale „Formalradio“), oder als interaktive Performance, an der ich teilnehmen kann – die sich aber nicht ausschließlich übers Ohr erschließt. Wie viele Leute sich tatsächlich die Zeit nehmen, zuzuhören, wenn es danach keine Erklärung des Künstlers gibt? Oder man sich schon während des Stücks nur fragt, was zur Hölle man da eigentlich gerade hört?
 
Ich frage mich gerade, was wohl morgen früh zu hören sein wird, wenn meine Freundin auf ihrem Arbeitsweg wieder über die 99,3 MHz zappt. Und ich merke gerade mal wieder, dass ich manchmal gerne einfach nur zuhöre.