"Goworit Moskwa" - Es spricht Moskau!

"Goworit Moskwa!" Die Stimme der Stalinzeit. Die Stimme des Kreml im Zweiten Weltkrieg. Die Stimme Juri Lewitans. Längst tot, verflogen die knarzigen Töne auf langen Wellen; und doch immer da, wenn der Kreml zu den Menschen spricht. Wie machen die das? Haben die die Stimme geklont? Ist es gar eine Stimme aus dem Jenseits? Oder ein Computer? Das Sounddesign des Kreml, eine starke Marke seit der Zeit, als Stalin Angst und Schrecken verbreitet hat.     Den Mann mit der Großmachtstimme kann man anrufen. Er heisst Jewgenij Choroschewzew und kommt zum Gespräch. Er sagt: "Zdrawstwuitje" - "Guten Tag". Er trägt Jogginghose. T-Shirt. Er dreht den Stuhl um, Lehne nach vorn: "So ist's bequemer." Choroschewzew ist älter als 70 und diszipliniert. "Wenn man sich gehen lässt, ist das ja das Ende." Er sagt Dinge, die man nicht hören möchte:
"Wir halten uns immer an die Traditionen. Wie Josef Wissarionowitsch Stalin mal gesagt hat: 'Wir haben es nicht geschaffen, also ist es auch nicht an uns, es abzuschaffen.'"

Choroschewzew spricht das deutlichste Russisch, das ich bisher gehört habe.   Und deshalb klingt der Kreml heute so wie vor 70 Jahren. Nun, etwas rauschfreier vielleicht. Früher war es dann doch ein bisschen gemütlicher. Denkste.   9. Mai, Roter Platz, Punkt 10 Uhr. Jedes Jahr. Die Kremlglocke läutet. 11.000 Soldaten stehen stramm und lauschen. Dann schallt die Stimme durch die Stille:
"Es spricht Moskau. Sehen Sie die Siegesparade auf dem Roten Platz". Das Fernsehen überträgt. Dann rollen die Panzer, Feldhaubitzen, Iskanderraketen. Choroschewzew erklärt, was man sieht. Routiniert. Er macht das schon sehr lang. 11.000 Soldaten brüllen auf sein Stichwort "Hurra!" Das Fernsehen überträgt landesweit.   Choroschewzews Karriere begann in den 60ern. Er war jung, Radioregisseur. Er stand im Studio und sie nahmen Parolen für den Ersten Mai auf:
Da zdrawstwuet pervwoe maja (Es lebe der Erste Mai), den meschdunarodnoj solidarnosti (der Tag der internationalen Solidarität) trudjaschichsja w borbe protiw imperializma (des Kampfes der Werktätigen gegen den Imperialismus), za mir (für den Frieden), demokratiu (die Demokratie) i sozialism (und den Sozialismus), urra! (Hurra!) Der Sprecher war niemand geringeres als DIE Großmachtstimme, Jurij Lewitan. "Ich war jung und kühn", sagt Choroschewzew, "und deshalb korrigierte ich ihn." Das ging eine Zeitlang gut, dann reichte es Lewitan: "Lies doch mal selbst." Choroschewzew ging ins Studio und lass. Und Lewitan sprach: "Von jetzt an werde ich bis ans Ende meines Lebens alle Demonstrationen auf dem Roten Platz nur mit dir sprechen." Wenn jemand wie Lewitan so etwas sagt, gibt es keine Diskussion mehr.   Und so kam es: 1968 dröhnte das erste Mal Choroschewzews Bass mit den Parolen über den Roten Platz. Und alle antworteten im Chor: Urra! Seitdem hat er alle präsentiert, die von Moskau aus herrschten: Breschnew, Andropow und Tschernenko, Gorbatschow, Jelzin, Putin und Medwedew. Und jetzt wieder Putin.   "Ich trinke seit vielen Jahren kaltes Wasser. So kriegt man niemals einen Schnupfen. Denn das wäre ja schlimm." Er sagt: "Mimimimimiiii." Und: "Auf keinen Fall Cognac. Der trocknet die Stimmbänder aus. Wodka geht. Aber nicht mehr als 50 Gramm. Bier ist verboten. Und der Arzt hat mir noch gesagt: Nur französischen Calvados. Sonst nichts. Calvados wärmt sehr, dabei weitet sich alles." Dann atmet er ein bisschen. Und ich schaue ihm dabei zu.   Nach dem Ende der Sowjetunion war vieles weg. Selbst die Parade zum Tag des Sieges am neunten Mai war kurzzeitig gestrichen worden. Nun wird die Kulisse restauriert. Damit Russland genauso schrecklich und groß werde, wie einst die UdSSR. Lediglich das Sounddesign blieb in den letzten 25 Jahren ungebrochen. Treu dem bereits zitierten Stalinschen Motto 'Wir haben es nicht geschaffen, also ist es auch nicht an uns, es abzuschaffen'. Es fahren nicht nur wieder Panzer, und Russland verschreckt seine Nachbarn, Präsident Putin heftet ausgesuchten Helden der Arbeit wieder Orden an die Brust. Choroschewzew ist immer dabei, gibt den Zeremonienmeister.   Er sei unpolitisch, sagt Choroschewzew, genau wie sein Beruf. Und Putin sei ihm der Liebste von allen. Mit dem sei es spannend, sie seien viel unterwegs. Derzeit sucht Choroschewzew einen Nachfolger. Damit der Kreml auch in Zukunft klingt wie der Kreml.