Mein Küchenradio in Moskau

Oben links: ein magisches Auge. Im Dunkeln leuchtet es grün. Unten rechts, geschwungen: Graetz, goldig. Mein Röhrenradio, bassig, satt. Gekauft wahrscheinlich 1955. London, Berlin, Drahtfunk Luxemburg, NWDR, SFB, Moskau. Die Skala endet bei Hundertundeinbisschen.   Es stand im Wohnzimmer meiner Großeltern, auf einer Eckkonsole aus Mahagoni. Zwei Zimmer, Ofenheizung. Trümmerbau. Verbannt in die Küche, als der Fernseher zentrales Möbelstück in deutschen Wohnzimmern wurde.   Der Graetz war die Stimme der Welt in der kleinen Nachkriegswohnung in Fallingbostel. Der Volksempfänger war mit dem Führerbild in Ostpreussen geblieben.   Jetzt steht der Holzkasten mit dem grünen Auge in Moskau in meiner Küche. Ausgerechnet. Moskau, das Zentrum der Bedrohung. Russland, das Land, in dem die Brüder und Väter blieben, aus dem sie gebrochen zurückkehrten, die Sowjetunion, das schwarze Loch, aus dem man nicht viel wusste. Meine Großeltern hatten Angst vor Moskau. Viele haben das heute noch und wieder.   Sowjetisches Radio: Stundenlang Rachmaninow, Tschaikowski, Schnittke, Militärmusik, Siegeslieder, gesungen von donnernden Chören, komische Schlager und Chansons auf Russisch. Wenn es Schwanensee gab, rätselte die Welt, ob ein Generalsekretär den Zustand von scheintot zu ganz tot gewechselt hatte. Wenn sein Ableben offiziell war, gab es Chopin, Klaviersonate Nr.2 in b-Moll. Das Politbüro wählte den Vorsitzenden der Begräbniskommission, der, zumindest im Fall von Michail Gorbatschow, auch der neue Generalsekretär wurde. Aus dem Radio in Deutschland schallten die Experten und orakelten über den Charakter des unbekannten Nachfolgers: Stammt er aus der Partei oder dem Geheimdienst KGB?   Morgens leuchtet das Auge. Dann hören wir Kommersant FM und Echo Moskwy. Das sind die Informationssender, die bisher noch halbwegs propagandafrei sind. Viele Sender sind schwer erträglich. Zuviel Billigpop, schreiende Werbung, Jingles, die schon vorwarnen, das Programm nicht weiter zu hören. In der Küche in Moskau steht auf dem alten Graetz aus Holz mit dem grünen Auge ein Laptop. Gebookmarkt sind die Radiosender meiner Wahl. Nachts leuchtet ein Apfel weiß.