Meine Lieblingsmail mutmasst sogar über meinen Tod: "Wäre der amtierende russische Präsident so niederträchtig wie von Ihnen dargestellt und würde er das Land tatsächlich so diktatorisch regieren, wären Sie Herr Franke vermutlich schon längst ein Opfer eines nicht aufklärbaren Verlehrsunfalls in Moskau geworden." (Zeichensetzung im Original) Dass ich den Unfall nicht hatte, liegt wohl nicht daran, dass Putin seine schützende Hand über ausländische Journalisten hält. Ich bin mir sicher, ich bin dem Präsidenten der Russischen Föderation reichlich egal. Das ist schade, aber nachvollziehbar. Wer kritisch berichtet und den Kopf aus dem Fenster hält, der muss mit Gegenwind rechnen. Politischer Journalismus ist kein Kuscheljob. Aber muss man dem Überbringer schlechter Nachrichten wie im Mittelalter den Kopf abschlagen? Ich bin eine "NATO-Hure". Ich bin auch ein "Faschist", "Nazi", "Russland-Hasser", "Miese Type", "widerlich". Meine Kollegin ist das alles auch, dazu kommt bei ihr noch, dass sie eine "chronisch untervögelte Lesbe ist, die einfachmal wieder....". Diese Fanpost kommt nicht anonym, die "Hörer" unterschreiben ihre Ausfälle oft mit vollem Namen. Es gibt sie, ich kann sie googeln, finde Gesichter, Adressen, Telefonnummern, ihre Aktivitäten im Internet. Würden mir diese Briefschreiber das auch ins Gesicht sagen? Es geht nicht darum, dass ich beleidigt wäre oder Kritik nicht aushielte. Es geht dabei um viel mehr: Es geht um den Diskurs, der Demokratie erst möglich macht. Russland kommt auch deshalb nicht in Gang, weil es dort keine Diskurskultur gibt. Als ich 1992 anfing, Russland zu bereisen und die Geschichten der Menschen zu erzählen, war das Land gerade am Ende. Armut, Hunger, Verbrechen beherrschten den Alltag. Als Putin an die Macht kam, begann er, das Land zu stabilisieren. Ihm halfen unter anderem der hohe Ölpreis und die Unterstützung durch westliche Staaten. Als ich dann 2011 nach Moskau fuhr, um unseren Umzug vorzubereiten, schöpfte ich Hoffnung, dass Russland nur noch wenige Schritte von einem stabilen Land entfernt ist, in dem die Menschen frei und in einigermassen langfristig gesicherten Verhältnissen leben können. Es waren gerade die Wahlen zum Parlament gefälscht worden, und deshalb gingen Zigtausende auf die Strasse. Es gab lebhafte Diskussionen in unabhängigen Fernsehprogrammen, Zeitungen, Clubs, auf Bühnen. Welch schöner Anblick: Die Menschen mischten sich ein. Skandale wurden aufgedeckt. In Russland keimte ein Diskurs, den es so bisher nicht gegeben hatte. Und ich freute mich darauf, 20 Jahre, nachdem ich erste Schritte auf russischen Boden gesetzt hatte, Zeuge dieser Entwicklung zu werden, als Chronist die letzten Schritte auf dem Weg zu einem stabilen und freien Land zu begleiten. Doch kaum war Putin erneut Präsident, wurde ich Zeuge von Ereignissen, die ich nur aus Geschichtsbüchern kannte - nur modernisiert, quasi Version 3.0. Medien wurden Schritt für Schritt eingeschränkt und manipuliert - alles schien gleichgeschaltet. Nachrichten wirkten wie Fantasien von Selbstüberschätzung. Da wurden zivilgesellschaftliche Organisationen zu Agenten, Ausländer zu Feinden stilisiert. Es gab Hatz auf andere, auf Kaukasier, Zentralasiaten, Homosexuelle. Kritische Filme wurden organisiert niedergebrüllt, Kritiker bekamen Probleme mit den Behörden, bis sie nicht mehr arbeiten konnten. Demonstranten wurden festgenommen. Teile der Ukraine wurden annektiert und zum rechtmässigen Teil Russlands erklärt. Ein Höhepunkt dieser traurigen Chronik war der Mord an dem Oppositionspolitiker Boris Nemzow. Jüngst wurden Bücher verbrannt. Bei all dem wurde auch noch der Kampf gegen den Faschismus ausgerufen, wie damals im Zweiten Weltkrieg, dem großen Vaterländischen (der beginnt in Russland übrigens nicht im September 1939, sondern erst mit dem Überfall auf die Sowjetunion am 20.Juni 1941. Wählte man das wahre Datum, müsste man die Mitschuld der Sowjetunion am Ausbruch des Krieges eingestehen). Seit ich all so etwas beim Namen nenne, bin ich für viele Leute selbst ein Faschist und geschichtsvergessen. Warum also dieser Hass auf Menschen, deren Arbeit es ist, meist unangenehme Nachrichten zu überprüfen und aufzuarbeiten? Und wie soll man mit diesen Mails umgehen? Journalisten müssen sich mit Kritik auseinandersetzen, niemand ist unfehlbar. Aber derartige Mails darf man nicht ernst nehmen. Und schon gar nicht in die Falle gehen, dass es sich dabei um die Mehrheitsmeinung der Hörer, Zuschauer, Leser handele. In einer funktionierenden Demokratie bekommt nur vordergründig der die meiste Aufmerksamkeit, der am lautesten ruft. Und so werden die Stimmen, die Russlands Politik rechtfertigen, leiser. Die Mehrheit der Bürger weiß sehr wohl, was sie von Putins Politik zu halten hat, sie können sich ja umfassend informieren. Demokratie und Medien in der Bundesrepublik funktionieren - mit wenigen Abstrichen. Wer das Gegenteil behauptet, lügt wissentlich oder ist dumm. Nach dem Krieg hat es ein paar Jahre gedauert, bis sich im Westen des Deutschlands die Demokratie gefestigt hatte. In der DDR wurde erst 1990 demokratische Partizipation möglich. Nie war der Diskurs so lebendig und vielfältig wie zur Zeit. Den Bürgern stehen nahezu alle Meinungen und Beobachtungen zur Verfügung, von den deutschen Zeitungen (allein deren Menge ist schon atemraubend) über Blogs und Foren, Radio und Fernsehen in all ihrer weltweiten Vielfalt. Um belastbare Informationen von Regierungspropaganda oder Firmenwerbung zu unterscheiden, braucht man unabhängige Medien. Die gibt es in Deutschland. Nicht perfekt, aber handwerklich auf höchstem Niveau. Um eine ernsthafte Debatte zu führen, die auch das freie Wort und unabhängigen Journalismus stärkt, brauchen wir Respekt und einen Tonfall, der Debatten ermöglicht. Jetzt kam eine Mail, in der ich als "penetranter, widerlicher NATO-BONZEN-Sau!"(sic!) bezeichnet wurde. Der Mann schreibt oft und unterschreibt mit vollem Namen. Eigentlich tut er mir leid. Trotzdem frage ich mich, ob ich nicht aus Respekt vor der Debattenkultur in Deutschland klagen müsste. Damit unser Diskurs nicht verkommt und irgendwann auch bei uns in Deutschland Verhältnisse herrschen, die man aus Geschichtsbüchern kennt.