WAS TÖNE SAGEN – UND WAS NICHT

14.02.2015

"Meine" erste Stereo-Ausrüstung – sendereigenes UHER-Report, zwei Sennheiser MD421-Mikrophone, Kopfhörer und viel Kabelgebammel – trug ich Mitte der 70er Jahre stolz aus dem Berliner Haus des Rundfunks in die Klangwelt. Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten binaural von den Bäumen. Ich musste ihren Klang nur noch "einfangen". Ähnliche Klanglust muss den Radiopionier Alfred Braun, Schüler des Regisseurs Max Reinhardt, erfüllt haben, als er 1929 an gleicher Stelle – allerdings noch monophon – von einem akustischen Film träumte, der in schnellster Folge traummäßig bunt und schnell vorüber gleitender und springender Bilder, in Verkürzungen, in Überschneidungen, im Wechsel von Großaufnahmen und Gesamtbild mit Aufblendungen, Abblendungen, Überblendungen bewusst die Technik des Films auf den Funk übertrug: 1 Minute Straße mit der ganz lauten Musik des Leipziger Platzes, 1 Minute Demonstrationszug, 1 Minute Börse am schwarzen Tag, 1 Minute Maschinensymphonie, 1 Minute Sportplatz, 1 Minute Bahnhofshalle, 1 Minute Zug in Fahrt ... Schon im ersten Rundfunk-Jahrzehnt zeigte sich der Ehrgeiz, "Wirklichkeit" allein durch Töne, durch Geräusch abzubilden. Als es dann Anfang der Sechziger Jahre gelang, die beiden Kanäle einer stereophonen Aufnahme dem UKW-Sendesignal "aufzumodulieren" (englisch: "Frequency Modulation" – FM), schien das Ziel erreicht: Mikrophone und Lautsprecher in Stereo-Anordnung als Verlängerung unserer beiden links und rechts am Schädel angebrachten Schallsammler übertrugen das aufgenommene Klangbild an viele Orte zugleich – in andere "Wirklichkeiten". Statt der eindimensionalen, ärmlichen Tondokumente der frühen Radiojahre – so schien es – erklang nun plötzlich "die Sache selbst". Peter Leonhard Braun, ein anderer Pionier, der die Möglichkeiten des Mehrkanal-Tons für das Radio-Feature entdeckte, sprach fortan von der "Emanzipation des Originaltons". Es stimmte ja: Hörer waren zu Ohrenzeugen geworden. Allerdings zu Ohrenzeugen einer ... Aufnahme. Wir Soundbegeisterten der 60er und 70er Jahre haben bald erfahren, dass wir dem "reinen Medium" einfach zu viel zutrauten. Was wir draußen in the field aufnahmen und was unsere Hörer hörten, war nur eine Teilwirklichkeit. Denn jeder von uns hörte etwas anderes. Wir lernten: Schon die Beschaffenheit der Aufnahme-Apparatur, das verwendete Speichermaterial, der praktische Umgang mit den Geräten, Wetter, Jahres- und Tageszeit, Wahl des Orts, des Aufnahmewinkels, ja sogar die Windrichtung entscheiden über das auf den Tonträgern fixierte Ergebnis. 1991 ... Nach São Luis / Maranhão, in den nordöstlichen Bundesstaat Brasiliens, bin ich von DAAD und Goethe-Institut als Leiter eines Feature-Seminars eingeladen. Es ist Sonntag. In den Gartenbäumen hinter dem Hotel toben Springäffchen herum. Sonst gedämpfte Stimmen, Kinderlachen, Zikaden-Klangteppich. Ich muss das Mikrophon nur aus dem Fenster halten. – Dieselbe Straße dann am Montagmorgen: Brüllender Verkehrslärm haut mich aus dem Bett, Stau-Gehupe, akustisches Babylon. Wäre ich noch Sonntagabend abgereist, bliebe von der Millionenstadt São Luis eine tropische Idylle in Erinnerung (und auf meinem DAT-Band). Wie klingen Orte, wie klingt die Welt "wirklich" ? Der Einfachheit halber zitiere ich aus meinem Buch "Objektive Lügen – Subjektive Wahrheiten / Radio in der ersten Person": Sobald wir das Mikrophon in die Hand nehmen, beginnt die "Manipulation" – wobei natürlich die handwerklich-gestalterische (manus - die Hand) und nicht die inhaltlich-verfälschende gemeint ist. Erst der Autor transportiert das Fragmentarische seiner Eindrücke in die Zeit- und Raumebene der Sendung; weist ihnen Ort, Zeitpunkt und Bedeutung zu. Dabei bewegt er sich immer auf dem schmalen Grat zwischen Verdichtung und Fiktionalisierung. Gradmesser für das Gelingen kann keine nachprüfbare "Authentizität" sein, sondern einzig und allein die aus dem Gehörten ableitbare Glaubwürdigkeit (...) Die Wirklichkeit im Radio ist, was wir von ihr mitteilen. Wir, die einzelnen, die Subjekte mit Namen und Geburtsdatum. Wir - die Autoren !

Nun lese ich im SWR-Radio-Blog von Christian Grasse (10. 2. 2015) unter der Überschrift "So klingen Metropolen" über eine Reihe von Internet-Projekten, die vorgeben, netzweit die reine Klang-Wirklichkeit ausgewählter Orte per stream 1:1 auf meinen Rechner zu transportieren. Eric Eberhhardt ("You are listening") nimmt den lokalen Polizeifunk "von St. Petersburg bis New York" als Soundvehikel; der Berliner Udo Noll ("Radio Aporee") hat bereits 28 000 Soundscapes einer virtuellen Klangweltkarte zugeordnet mit Titeln wie "Tree with dry leaves, Daisen-in garden, Kyoto" oder einfach "Linz, Österreich"; verschiedene Apps verknüpfen – wenn ich recht verstehe – "zum Ort passende Aufnahmen" per Smartphone und GPS-Sensor mit interessierten Zuhörern "wie ein Audioguide im Museum". Grasse verwendet dafür den Begriff "hyperlokales Radio".

Dass ich als analog sozialisierter Oldie (Jahrgang 1940) mit solchen Versuchsanordnungen nicht allzu viel anfangen kann, darf hier keine Rolle spielen. Allerdings fällt mir bei den genannten Projekten eine begriffliche Unschärfe auf. Ist "Wirklichkeit", "Authentizität" beabsichtigt ? Wird sie durch ihre Behandlung wie z. B. durch den Einsatz von Soundteppichen (ambient music) – siehe Eric Eberhard – nicht sogar widerrufen, zumindest aufgeweicht ? Was hat das Live-Experiment der konventionell gespeicherten, bearbeiteten und von Tonträgern gesendeten Aufnahme eigentlich voraus ? In den 70er Jahren begann der Komponist Bill Fontana aus Cleveland / Ohio Klänge aus ihrem Kontext zu lösen und per Telefon, später durch Satellitentechnologie in andere Hör-Umfelder zu übertragen. Das Ergebnis nannte er "Sound sculptures". Am bekanntesten wurden seine "Klangbrücken" Köln – San Francisco (1987) und Köln – Kyoto (1993) in Zusammenarbeit mit Klaus Schöning (WDR). Hier wie dort standen Mikrophone und Lautsprecher an öffentlichen Orten. Am Mischpult des WDR "verdichtete" Bill Fontana die jeweiligen direkt übertragenen Geräusche zu einer Live-Komposition. Die Live-Geräusche, nehme ich an, unterschieden sich nicht substantiell von vorproduziertem Material. Beides unterlag den gleichen Zufälligkeiten und Subjektivitäten. Was das Publikum auf der anderen Seite der Versuchsanordnung jeweils zu hören bekam, war nicht "San Francisco", nicht "Kyoto". Man hörte eine Pre-Selection, gefiltert durch das ästhetische Temperament eines Soundkünstlers – nicht "Wirklichkeit", sondern eben Klangkunst. Die Medienwissenschaftlerin Petra Maria Meyer, Professorin an der Muthesius Kunsthochschule Kiel, brachte es in einem Vortrag 1999 auf den Punkt: "Wenn es durch technische Vorrichtungen (Verknüpfungen) dem Zuhörer ermöglicht werde, "an Geschehnissen des 'Lebens' an fast allen Orten dieser Welt teilzuhaben", dann werde er "diese Teilhabe nur empfinden, wenn er das zu Sehende und zu Hörende für ein tatsächliches Geschehen" halte. Das Ferne werde "in der Livesendung nur dann für 'das Leben' gehalten", wenn es auch authentisch erscheine. Viel Konditional auf einmal. Oder in den Worten Bill Fontanas auf seiner Homepage: A sound is all the possible ways there are to hear it.  

Kommentare

Möchten Sie einen Kommentare abgeben? Benutzern Sie Ihren Dokublog Login. Nach dem Login wird hier das Kommentarfeld angezeigt. Hier einloggen ...