In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 1. März 2014 listet der Essayist Hans Magnus Enzensberger unter dem Titel „Wehrt Euch“ „zehn einfache Regeln“ auf, wie sich die Leser mit den klugen Köpfen „ihrer Ausbeutung und Überwachung widersetzen können“. Es geht um Online-Banking („ein Segen, aber nur für Geheimdienste“), Smartphones („Smart sind ... die sie uns anpreisen, um unermessliche Reichtümer anzuhäufen und gewöhnliche Menschen zu kontrollieren“) und Internet-Handel („sollte man meiden“) und gegen die „digitale Enteignung“ und die „Überwachung jeder menschlichen Regung“.
Enzensbergers kultur- oder medienpessimistischer Zug („Es hat ein Leben vor dem Mobiltelefon gegeben“) wäre nicht weiter bemerkenswert, würde es sich nicht um den Autor handeln, der mit seiner Emphase für eine Aneignung der Medien im Baukasten für eine Theorie der Medien von Anfang der 1970er Jahre große, auch internationale Beachtung fand. Dort finden sich so schöne Sätze wie: “Die sozialistischen Bewegungen werden den Kampf um eigene Frequenzen aufnehmen und in absehbarer Zeit eigene Sender und Relais-Stationen aufbauen müssen” (Baukasten zu einer Theorie der Medien. In Hans Magnus Enzensberger: Palaver. Frankfurt am Main 1974, S. 91-129, hier S. 104). Dieser glänzende Essay bildet einen einflussreichen Anschluss an Bertolt Brechts Radiotheorie, einer der wichtigsten Versuche im 20. Jahrhundert, die Aneignung der Medien in ihrer gesellschaftsverändernden Kraft zu denken.
Doch Enzensbergers verzweifeltes „Wehrt Euch“, das etwas lahm Stephane Hessels „Empört Euch!“ zu radikalisieren versucht, kann sich eine Aneignung der Medien, wie sie exemplarisch Anfang der 1970er Jahren am Radio diskutiert wurde und seitdem beharrlich von einer heterogenen, jeweils eher lokal erfolgreichen Bewegung durchgefochten wurde, offenbar gar nicht mehr vorstellen. Nun hilft nur noch die digitalen Medien zu meiden: „Wer ein Mobiltelefon besitzt, werfe es weg.“ Enzensberger unterschlägt gar nicht, dass „Nerds, Hacker und Kryptographen“ vielleicht andere Techniken kennen, aber statt diese zu verbreiten, gefällt es dem Essayisten mehr, Konsumverweigerung als Widerstand zu denken. Die „Hersteller“ von vernetzten Haushaltsgegenständen seien „nur durch die Pleite zu belehren.
Woher kommt die Hilflosigkeit, die Enzensbergers zehn Regeln ausstrahlen? Meiner Meinung nach nicht nur aus einer verkürzten Gesellschaftsanalyse, wie sie in der Metapher von Facebook als „ein Krake“ aufscheint, sondern vor allem aufgrund eines falschen Kommunikationsbegriffs, der sich schon in Enzensbergers Brecht-Lektüre ankündigt.
Zur Erinnerung: Der Rundfunk, schreibt Brecht, „ist ein reiner Distributionsapparat, er teilt lediglich zu“, und er fordet programmatisch und oft zitiert: „Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln.« (Bertolt Brecht, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 21, 553) Das klingt eindeutig: Der Rundfunk ist mit einem Mangel an Kommunikation behaftet, der beseitigt werden muss. So liest das auch Hans Magnus Enzensberger: „Die Kommunikationsmedien tragen diesen Namen bisher zu Unrecht. [...]. Sie lassen keine Wechselwirkung zwischen Sender und Empfänger zu.“ (Baukasten, S. 93) Brechts Forderung zur Veränderung des Apparats wird entsprechend als technische Veränderung verstanden: „Jedes Transistorradio ist, von seinem Bauprinzip her, zugleich auch ein potentieller Sender; es kann durch Rückkopplung auf andere Empfänger einwirken. Die Entwicklung vom bloßen Distributions- zum Kommunikationsmedium ist kein technisches Problem. Sie wird bewusst verhindert, aus guten, schlechten politischen Gründen.“ (ebd.)
Und in diesem Sinne wurde seit den 1990er Jahren das Internet vielerorts als Realisierung von Brechts Forderung gefeiert – eine Emphase, die zuletzt Twitter zugute kam: Endlich kann jeder Empfänger zum Sender werden und unterdrückte Nachrichten verbreiten, endlich gibt es ein echtes Kommunikationsmedium, das niemanden mehr strukturell ausschließt und alle mit allen vernetzt. Der Preis dieser Freiheit des Sprechens, das haben die Verhaftungen nach den Gezi-Park-Protesten in Istanbul gezeigt, ist die Kontrolle dieser Kommunikation. Jeder Sender, jeder Empfänger ist dingfest zu machen.
Und hier zeigt sich das Problem von Enzensbergers Brecht-Interpretation. Er liest Brechts Vorschlag als wäre es dem erklärten Kommunisten Brecht nur um das Medium und nicht die Gesellschaft gegangen. Brecht wollte, so denke ich, das Radio technisch keineswegs verändern. Kommunikation versteht sich bei ihm immer als Distribution – und die Distribution ist immer unheimlich, denn mit ihr gibt der Sender die Kontrolle über das Gesendete ab. Im Radio wurde diese Unheimlichkeit oft als Spuk verstanden (vgl. das gerade erschienene Radio-Dossier in der Zeitschrift „Kultur und Gespenster“). Das Internet, die digitale Kommunikation hat diesem Spuk, dem unkontrollierbaren, vervielfachtem Ausstrahlen von Stimmen ein Ende bereitet. Brechts Frage perenniert, welche Gesellschaft durch ein Medium wie Radio gefordert wurde.
Und in diesem Sinne ist nicht nur darüber nachzudenken, warum sich heute so viele und so gerne der Kontrolle durch ihr Mobiltelefon unterwerfen, sondern erneut über die Theorie des Radios, die von einer Theorie digitaler Medien nicht zu trennen ist. Für sie gilt weiterhin, das bestätigt auch Frank Schirrmacher in derselben Ausgabe, in der Enzensbergers „Wehrt Euch“ erschienen ist, Enzensbergers Feststellung – “Eine marxistische Theorie der Medien gibt es bisher nicht” (Baukasten, S. 92).