Das Wort "Radio", das als Fahne über unseren Texten flattert, besagt alles und deshalb nichts. Meinen wir das tradierte Transportmittel zwischen dem einsamen Autor und den unbekannten Vielen "draußen im Land" (öffentlich-rechtlich produzierte Produkte, live gesendet oder als Podcast auf Flasche gezogen?) Oder die "klassische" Ad-hoc-Reportage? Experimentelle Formate zwischen Audi-Art und Video-Spiel ? Auf Servern oder in Clouds gespeicherte Sammlungen von O-Tönen aus aller Welt (siehe den Eintrag von Christian Grasse vom 10. Februar)? Oder vielleicht das Diskutieren noch ofenfrischer Autorenproduktionen in den wieder aufgelebten Salons der Großstädte? Oder den "User-Generated Content", der von "Creators" in das www abgesondert und von "Lurkers" konsumiert, von anderen zerrissen, verändert, weitergestrickt werden kann.
Ich denke, wir sollten den Radio-Laden etwas aufräumen.
In dem Buch "Objektive Lügen – subjektive Wahrheiten / Radio in der Ersten Person" habe ich versucht, meine Laden-Ecke neben all den anderen (Hörspiel, Reportage, Essay u.s.w.) näher auszumalen. An der Tür steht: "Dokumentarische Abteilung / Feature". Ich habe 40 Jahre dort verbracht , als wir noch ohne schlechtes Gewissen zwischen "Profis" und "Amateuren" unterscheiden durften. Bis heute meine ich, ohne letztere (die "Liebhaber") gering zu schätzen, dass Radiomachen auch ein Beruf ist, der neben Leidenschaft und Phantasie einen beträchtlichen Vorrat an Kenntnissen und praktischen Erfahrungen voraussetzt.
Auszug aus meiner Berufsbeschreibung:
"Der Feature-Autor verfolgt Entwicklungen als punktuelle Ereignisse von mittelfristiger Aktualität. Er wählt im Idealfall Orte, Themen, Blickwinkel und die Methode der Beschreibung selbst. Er recherchiert und schreibt ergebnisoffen. Er soll finden, nicht Erwartetes belegen. Er nähert sich dem Gegenstand tastend, elliptisch, meandernd – der 'gerade Weg' führt womöglich an bedeutenden Details vorbei. Der dokumentarische Autor (Achtung, Metapher !) liefert Schnappschüsse vom Tatort und seziert auch die Leiche. Er bearbeitet Stoff-Gebiete am Beispiel von Personen und Ereignissen ('Small stories – Big issues'); weitet, wenn nötig, das Arbeitsfeld räumlich und zeitlich aus – oft über Tage, Wochen, Monate; 'arbeitet' Themen und Stoffe nicht 'ab' sondern lebt mit ihnen. Er bezieht die Hörer in seine eigenen Gedanken ein, macht sie mit den Gedanken Beteiligter vertraut, initiiert innere Dialoge mit dem Publikum (Wie würde ich mich verhalten ? – Pro und Kontra). Feature-Autoren sind hybride Wesen (sprach- und aufnahmetechnisch begabte, musikalisch empfindende Zeitgenossen mit journalistischem, sprich: detektivischem Spürsinn). Sie lassen sich von Fakten aber auch von Phantasie, Inspirationen, Träumen, Zufällen, persönlichen Erfahrungen leiten. Ihre Aufgabe ist verantwortungsvolles und intelligentes Einordnen, Zurechtrücken, Übersetzen, Entkleiden, Eindampfen und Weglassen, um auf diese Weise das, was wir etwas leichtsinnig 'Wirklichkeit' nennen, überschaubarer machen; auch die Entdeckung verborgener oder kaum beachteter Qualitäten und Schönheiten. Herz und Verstand kritisieren und korrigieren einander ..."
Der Berliner Autor und Mit-Blogger Michael Lissek hat das einen "warmen Code" genannt – im Gegensatz zum "kühlen Code" (dem stationstypischen Einheits-Sound zum Beispiel). Nennen wir 's ruhig "das Menschliche". Da ich mich mit offenbar antiquierten Begriffen gern in die Nesseln setze, füge ich noch folgende Berufstugenden hinzu: klare, doch keinesfalls platte Ausdrucksweise, Fasslichkeit (auch eines dieser schönen alten Wörter mit Goldrand); schließlich erkennbare Empathie für Thema, Protagonisten und Zuhörer.
Axel Eggebrecht, Mitbegründer des Nordwestdeutschen Rundfunks in Hamburg, der sich nicht vor "großen Worten" fürchtete, sofern sie groß gedacht waren, schrieb über das neue, von der britischen Besatzungsmacht importierte Genre "Radiofeature" 1945:
"Der Verfasser muss sein Thema kennen und lieben, ehe er beschloss oder beauftragt wurde, es zu schreiben. Kaum eine andere Funkarbeit braucht so viel Vertrautheit mit dem Gegenstand, so viel Lust zur Sache, wie diese (...) In jeder Hörfolge muss der Druck einer lebendigen Gesinnung spürbar sein".
Stark !
In 10 Jahren werden nach Überzeugung des Gründers der US-Firma "Narrative Science", Kristian Hammond, 90 Prozent der journalistischen Nachrichten weltweit von "Bots" erledigt werden – von Computerprogrammen also, die ohne Interaktion mit lebenden Menschen auskommen. Mit den "sozialen" Netzwerken hat sich die Welt andererseits in einen Chatroom zum Austausch kurzatmiger Selbstgespräche verwandelt. Alles live, alles mal so aus dem Ärmel geschüttelt. Die derzeit letzte Stufe vor dem Austausch von Röntgenbildern auf der Exhibitionisten-Bühne, genannt "Live-Streaming", beschreibt "Tagesspiegel"-Autorin Maria Fiedler so:
"In New York City gibt es eine Gasexplosion, kurz danach zücken erste Nutzer ihre Handys. Einige starten gleich PERISCOPE, eine Live-Streaming-App von Twitter (...) Nun können wir uns in Echtzeit ansehen, wie dort über einem Häuserblock Rauchwolken aufsteigen und die Feuerwehr anrückt (...) Nun fragen sich einige", fährt die Autorin in anderem Zusammenhang fort, "wie diese Möglichkeiten den Journalismus oder auch das ganze Internet verändern könnten. Besser wäre aber zu fragen, wie Apps à la PERISCOPE uns alle verändern (...) Wenn unser erster Reflex nicht ist, den Moment zu genießen, sondern ihn zu dokumentieren und andere daran teilhaben zu lassen, vielleicht sogar in Echtzeit – dann läuft im Grunde etwas gewaltig schief".
Reflexe ersetzen die Reflexion.
Das alles muss auch anderen aufgefallen sein. Deshalb holt man auf der Suche nach einem Erfolgsrezept den leicht angestaubten "klassischen" ERZÄHLER aus der Kiste. Im Katalog "Journalismus und Public Relations" des UVK-Medien-Fachverlags für 2015 taucht der längst Totgesagte in allen Abwandlungen wieder auf. Die Ratgeber heißen: "Storytelling für Journalisten", "Digitales Erzählen", "Multimediales Erzählen", "Short Storytelling" (für kurze Video- und Filmformate), "Storytelling in virtuellen Welten" ("Wie Film und Game verschmelzen"), "Storytelling" ("Wie Geschichten wirken und wie Unternehmen sie professionell erzählen können"), "Kreative PR" ("Wie man aus drögen Themen spannende Geschichten kreiert").
Klar – es geht um eine METHODE, eine TECHNIK. Nicht Menschen mit ihren Eigenarten, ihrer Intelligenz erzählen, sondern Unternehmen mit der Stimme von Ghostwritern. Und die Programmierer scharren schon auf ihren Keyboards: "Die Firma Narrative Science ist darauf spezialisiert, aus Datensätzen GESCHICHTEN zu generieren". Nicht die Datenanalyse, sondern "erst deren Umsetzung in Geschichten" sei die Leistung künstlicher Intelligenz, so der besagte Kristian Hammond, nebenbei auch "Professor für Informatik und Journalismus" in Chicago.
Gerade las ich in "Nachruf", der Autobiographie des großen Stefan Heym (1988), "dass man am meisten aussagt, indem man die Dinge erzählt".
Er freilich hatte etwas zu erzählen!