Seit einiger Zeit teile ich mir das Büro mit meinem Lebensgefährten. Das Nebeneinander fuktioniert relativ harmonisch. Wir kennen uns lange und gut genug, um über beidseitige Marotten hinweg sehen zu können. Aber bei einem Thema bekommen wir uns doch in die Haare: Wer bestimmt das Radioprogramm? Hören wir nonstop Cadena Ser, dem meist gehörten spanischen Wortprogramm (was ihm entgegen käme), oder switchen wir uns dank Internet-Radio durch die öffentlich-rechtliche Hörfunkwelt Deutschlands? Radiotechnisch bin ich deutsch sozialisiert, er spanisch. Heißt übersetzt: Er hält den Duktus der deutschen Nachrichtensprecher für eine intellektuell verbrämte Einschlafhilfe – und ich verstehe bei der Hälfte aller politischen Debatten erst nach Minuten, um was es eigentlich geht, weil alle immer durcheinander reden und sich dann der durchsetzt, der am lautesten spricht. „Tertulia“ eben.
Zugegeben, das war jetzt etwas ungerecht. Eine „Tertulia“, ursprünglich ein politisch-literarischer Stammtisch und inzwischen die am weitesten verbreitete Radioreform zwischen Pyrenäen und Gibraltar, kann ein sehr unterhaltsames Instrument des politischen Journalismus sein. Vorausgesetzt man kann ihr folgen. Meist sitzen dabei drei bis vier politische Journalisten/Intellektuelle/Andere-was-zu-sagen-Habende plus Moderator im Studio und sezieren die Weltlage. Wobei sezieren vielleicht ein zu analytischer Begriff ist. Tatsächlich geht es zuvorderst um Meinung. Die ist schnell bei der Hand – und sollte sie ausnahmsweise mal nicht so schnell zu definieren sein, zeigt der/die tertuliano/a zumindest Haltung. Und fiebert, leidet oder fühlt zumindest mit. Schalten Sie einmal das spanische Radio ein und versuchen Sie, allein vom Duktus der Sprechenden zu bestimmen, ob gerade über Politik oder Fußball debattiert wird. Sie werden häufiger daneben liegen, als Sie glauben. Als eher lauwarm temperierte Mitteleuropäerin fehlt mir, bei aller Freude über die lebendige Debatte, zuweilen tatsächlich die Analyse. Oder zumindest das Luftholen, die Atempause nach der Ortsmarke. So schnell, wie die sprechen, kann ich mir gar keine Meinung bilden, zumindest bei eher komplexeren Themen wie Arbeitsrechtreform oder Verfassungsreformen. Wobei das „Meinung bilden wollen“ mich vermutlich auch schon als Ausländerin outet. Eine Meinung hat man. Punkt. Die meisten Tertuliano/as lassen sich recht eindeutig auf dem Rechts-Links-Schema einordnen, die Hörer auch (zur Politisierung der spanischen Radio-Landschaft schreibe ich in den nächsten Wochen auf diesem Blog). Da man die Meinung aller Mitdiskutierenden ohnehin könnt, stört sich auch niemand daran, dass alle sich ständig ins Wort fallen. Außer mir natürlich.
Es gibt, erzählte mir kürzlich eine Bekannte, auch eine sprachwissenschaftliche Erklärung zu diesem Phänomen: Während im Deutschen das Verb oft am Ende des Satzes steht, man also den anderen ausreden lassen muss, um wirklich zu verstehen, was er eigentlich sagen will, erlaubt der spanische Satzbau ein früheres Verstehen, ergo auch Antworten, Widerlegen des Gesagten, was Unterbrechungen nicht nur erlaubt, sondern geradezu herausfordert. Das klingt schlüssig. Und könnte auch erklären, warum mein Büro-und Lebensgefährte und ich uns meist auf Spanisch zoffen und dann auf Deutsch den Konflikt ausdiskutieren. Más o menos zumindest. Radiotechnisch haben wir übrigens eine salomonische Lösung gefunden. Wir passen das Radioprogramm unserm Biorhythmus an. Morgends gibt’s ergänzend zum Kaffee den Adrenalinkick der politischen Tertulias, am späten Vormittag konzentrationsfördernde Hintergrundberichte. Mein Freund steckt sich dann manchmal zusätzlich noch einen Knopf ins Ohr, um den spanischen Vormittagstalk nicht zu verpassen. Er kann sich problemlos von zwei bis vier Quellen beschallen lassen (gerne auch noch aus dem Fernseher), ohne dabei verrückt zu werden. Sehr beeindruckend. Und vielleicht auch eine Folge der spanischen Tertulia-Sozialisation.