Mehrspur: "Sau des Monats"

O-Ton (Gespräch) von Dokublog

Dauer: 5:36 Minuten

Audio-Nr: #1278

Inhalt: Jeden Monat wird eine andere Sau durchs mediale Dorf gejagt, werden Themen gepuscht und aufgeblasen, zitieren Zeitungen, Fernsehen und Radio permanent sich selbst und die schiere Fülle suggeriert Bedeutung. Für den Journalist Tom Schimmeck war Thilo Sarrazin die "Sau des Monats". Tom Schimmecks homepage: http://www.schimmeck.de

Schlagworte: Mehrspur,Schimmeck,Thilo,Sarrazin,Medien

Ereignis Datum: 10.10.2010
Ereignis Ort: Baden-Baden
Skript: Man muss die Sau rauslassen. Und sie durchs Dorf treiben. Das schafft Aufmerksamkeit. Aufregung. Auflage. Talkshow (Plasberg) Schönen guten Abend und herzlich Willkommen... Die Dramaturgie einer Erregung. Thilo Sarrazin, Sozialdemokrat, Volkswirt, Ex-Senator und Bundesbanker, schreibt ein Buch: „Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“ Voller Zahlen. Und voller Verachtung für die vermeintlich dumme, aber umso vermehrungsfreudigere Unterschicht. Am schlimmsten: Diese Zugewanderten. Vor allem die Moslems. Die ja, das hatte der Banker schon im vergangenen Jahr laut kundgetan, viel zu viele „Kopftuchmädchen“ produzieren. Sarrazin …der wird als Zuwanderer langfristig gesellschaftlich und finanziell der mehr Kosten verursachen als er der Gesellschaft bringt…. Für solch ein Buch muss es Bumm machen. Auf großer Bühne. Und tatsächlich sorgen Bild und Spiegel – die neue, unheilige Sautreiber-Allianz – für maximalen Lärm. Ihre angeblich 18 Millionen Leser dürfen sich vorab in den knackigsten Phrasen suhlen. Das lohnt sich – für Sarrazin wie für die Blätter. Die Sau ist im Dorf. Geräusch Sau / Geräusch Kameraklicken Und alle anderen Medien laufen ihr hinterher – schreiben, knipsen und senden, was das Zeug hält. Ein „Aufreger“ ist geboren. Talkshow (Beckmann) Guten Abend und herzlich willkommen ihnen allen. Kaum ein Buch hat schon vor seiner Veröffentlichung für so viel Aufregung gesorgt wie das von Thilo…. Weil so eine leckere Erregung schneller zusammenfällt als ein Soufflé, muss nachgeheizt werden. Zum Beispiel mit ein bisschen erbbiologischem Unfug. Mit ein wenig Gerede von den Genen der Juden oder der Muslime, der Klugen und der Dummen, der Ober- und der Unterschicht. Sarrazin: ...
dass alle menschlichen Eigenschaften eine Erbkomponente haben, darunter auch die Intelligenz ...Gene, die Volksgruppen voneinander, äh. anhand von denen man, äh, man, äh, man, äh, also Volksgruppen voneinander unterscheiden kann…. Perlen für die Sau. Das kreiert noch mehr Schlagzeilen. Noch mehr Auflage. Das weckt Empörung und Protest. Was wiederum die Möglichkeit schafft, die Tabu-Taste zu drücken. Der Spiegel titelt über den „Volksheld Sarrazin“. Während Bild – das Zentralorgan unterdrückter Minderheiten – ihren „Klartext-Thilo“ zum Opfer bitterböser Kritiker stilisiert. Mit Schlagzeilen wie: „Bild kämpft für Meinungsfreiheit!“ „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“ oder: „Wir wollen keine Sprechverbote!“ Illustriert übrigens, oh Gipfel der Ironie, mit einem Foto, dass den vermeintlich mundtot gemachten Propheten zeigt, wie er von einer gigantischen Zahl von Mikrofonen bedrängt wird, deren Halter nur das eine wollen: Mehr von diesem geilen Sarrazin-Superstoff. Nun ist er der mutige Tabubrecher. Das muss doch erlaubt sein, rufen die Fans. Endlich, endlich sagt es einer…. Auch die Lautsprecher sind flugs in Stellung gegangen. Hendryk M. Broder etwa, der Muslime ja noch viel scheußlicher findet als der späte Sarazene, eilt zur Buchvorstellung, wo Hunderte Wörter- und Bildermacher übereinander fallen, und berichtet quasi live im Deutschlandradio: Broder am Telefon: 
Ich stehe gerade hier in Berlin im Haus der Bundespressekonferenz und hinter mir drängeln sich Hunderte von Journalisten, Dutzende von Kamerateams, man könnte meinen, die Mauer sei wieder gefallen oder werde wieder aufgebaut! Einen solchen Presseauflauf hat es hier seit 89 wirklich nicht mehr gegeben. Die Erregung strebt dem Höhepunkt entgegen. Broder am Telefon:
Und das zeigt, dass Sarrazin in der Tat einen Nerv getroffen. 
 Das Buch hat er nach eigenem Bekunden noch nicht gelesen. Aber der Nerv, der ist voll getroffen. Die verfolgte Unschuld schon geboren: Broder im TV ...und im Falle von Sarrazin erleben wir jetzt wirklich eine unglaubliche Hexenjagd. Sarrazin ist nun der mutige Provokateur, der Verkünder unbequemer „Wahrheiten“. Das Stammpersonal der Talkrunden stürzt sich in den Sautreiber-Strom. Dampfplauderer wie Arnulf Baring, Hans-Olaf Henkel und Matthias Matussek. All die Wellenreiter der öffentlichen Erregungsstürme. Und die Vollzeit-Pyromanen, die ihren Lebensunterhalt damit verdienen, von hinten halb rechts auf den teuren Sozialstaat und die öde „Konsensgesellschaft“, auf die Muslime und alle sogenannten „Gutmenschen“ niederzugehen. Baring Das Buch ist ein, wie ich finde, sehr seriöser, ernsthafter, nachdenklicher, gut belegter Essay… Niedere Instinkte sind geweckt. Der Lärmpegel steigt. Das Niveau sinkt weiter. Schon jubelt die NPD. Während Frank Schirrmacher sich in der FAZ die „Frau Merkel“ vorknöpft, weil sie das Buch noch nicht komplett gelesen hat. Dieses „wichtige Buch“, - das auch „Bild“ weiterhin tagtäglich feiert. - und das zeigt, was das Volk will, diese ewig unverstandene, gequälte Masse, dessen neue, klare Stimme nun Sarrazin heißt. Sarrazin ...also 95 Prozent fanden, dass ich mit meinen Aussagen nicht zu weit gegangen war... „Die Politik“ hingegen ist ach so bös und fern und unter aller Sau. „Die Politiker“, so klingt seit Monaten der postdemokratische Refrain, der auch jetzt wieder laut angestimmt wird, „die Politiker“ taugen ja sowieso alle gar nichts. Und so steigt und fällt und steigt die Erregung. Die Show muss weitergehen. Die nächste Sau wird schon erregt erwartet. Baring Und die Politiker sollten etwas den Mund halten, denn die haben ja diese Zustände so weit kommen lassen, dass man jetzt von einem Problem reden muss, das immer wieder eruptionsartig auftaucht und längst von der Politik aller Parteien anders und energischer und tüchtiger und zukunftsfähiger hätte beantwortet und behandelt werden müssen… Toncollage Hufgetrappel / Sarrazin: Ja also es geht ja erst einmal um eine Sache / Plasberg: Guten Abend und herzlich willkommen / Saugrunzen
Gesendet in SWR2: 10.10.2010
Upload Datum: 06.10.2010

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Zum Autor: Der Dokublog ging im April 2008 online und wurde im gleichen Jahr zum Prix Europa nominiert. Im Dezember 2015 gab es einen Neustart.

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