Zuflucht (2): ostwärts | Zum Abitur von Blomberg/BRD nach Leipzig/DDR

Feature von Lafargue

Dauer: 10:59 Minuten

Audio-Nr: #3470

Inhalt: Günter Platzdasch erzählt von seinem lippischen Gymnasium und von Karl-Heinz Henne, der an der Schule, wo auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sein Abitur ablegte, aus dem Unterricht heraus verhaftet wurde. Der kommunistische Schüler wurde zu 8 Monaten Gefängnis verurteilt. Von bundesdeutschen Schulen verwiesen, suchte er Zuflucht in der DDR. In Leipzig konnte er sein Abitur machen, ging zurück nach Westdeutschland - und wurde 1971 eines der ersten "Berufsverbote"-Opfer, noch vor dem "Radikalenerlaß".

Ereignis Ort: Ostring 14, 32825 Blomberg, Germany
Skript: [Lulu Belle & Scotty - I'm No Communist (1952)] Ich heiße Günter Platzdasch und habe Anfang der siebziger Jahre in Nordrhein-Westfalen, in Lippe, mein Abitur gemacht. Genauer gesagt am Gymnasium Blomberg, wo der heutige Bundespräsident Steinmeier mein Mitschüler war, wir sind im selben Schulbus gefahren und hatten auch im gemeinsamen Jurastudium später noch miteinander zu tun. Ich selbst bin mit meiner Familie noch als Kind und vor dem Mauerbau aus der DDR nach Westdeutschland übergesiedelt. Ich gehöre also zu den über fünf Millionen, die aus der DDR in die Bundesrepublik kamen. [DDR-Hymne (Becher/Eisler): Deutschland, einig Vaterland] In meiner Abiturszeit lernte ich in unserer Gegend einen jungen Kommunisten kennen, der vor mir an meiner Schule gewesen – und dann aber von Westdeutschland in die DDR übergesiedelt war. Diesen Weg gingen nach Historikerschätzungen etwa 450.000-650.000 Menschen. Und das kam in diesem Fall so, es kommt mir fast vor wie ein Remake des deutschen Films „Zuflucht“ aus dem Jahre 1928, in dem der Protagonist wegen seiner Beteiligung an der Novemberrevolution aus Deutschland erst fliehen muss und dann später zurückkehrt: Mein Mathematiklehrer erzählte von Karl-Heinz Henne, so hieß der junge Kommunist, der früher auch an unserer Schule gewesen war. Am 27. September 1962 war er aus dem Mathematikunterricht heraus verhaftet worden. Und bevor er an unsere Schule nach Blomberg kam, war Henne schon von anderen Gymnasien in Lippe geflogen. Als er sich geweigert hatte, an einer Schulveranstaltung zum zum 17. Juni, das war damals ein Feiertag zum Gedenken an den Aufstand in der DDR 1953, also an dieser Schulveranstaltung teilzunehmen, wurde er vom Gymnasium Leopoldinum II in Detmold am 14. Juli 1961 von der Schule verwiesen. Hennes Standpunkt: die Teilnahme an der Feier sei zwar eine Empfehlung des Ministeriums, aber keine zwingende Vorschrift. Dann kam ein erfolgloser Versuch, an einem Gymnasium in Herford das Abitur abzulegen, schließlich landete Henne an unserer Schule in Blomberg. Aber auch da kann man nicht zum Abitur, weil er halt mitten im Unterricht verhaftet wurde. Seine Schandtaten: [FDJ: Weltjugendlied] Henne hatte an den kommunistisch orientierten Weltjugendfestspielen in Helsinki teilgenommen, in Leipzig am V. Arbeiterjugendkongress eine Rede gehalten und diskutiert und sich in der DDR für eine Tournee des Schriftstellers Bruno Apitz, von dem der KZ-Buchenwald-Roman „Nackt unter Wölfen“ stammt, durch die Bundesrepublik eingesetzt. [FDJ: Freie deutsche Jugend stürmt Berlin] Im wurden Geheimbündelei in verfassungsverräterischer Absicht, verfassungsverräterische Nachrichtendienst, Aufnahme landesverräterische Beziehungen und Verstoß gegen das KPD-Verbotsurteil vorgeworfen. Das Urteil vom 10. März 1963 gegen den Schüler: acht Monate Gefängnis. Und obwohl nach der Untersuchungshaft der Rest der Strafe zur Bewährung ausgesetzt wurde, weigerte sich unsere Schule, das Blumberger Gymnasium, Henne wieder aufzunehmen, sodass er das Abitur dort hätte ablegen können. Das Abitur nannte man damals, auch zu meiner Zeit noch: Zeugnis der Reife. Bei dem „Heranwachsenden“ Henne ging es im Prozess auch um die Frage, ob er nach dem milderen Jugend- oder nach Erwachsenenstrafrecht zu verurteilen war. Unser Schuldirektor, den ich auch noch erlebte, schrieb in sein Gutachten, Henne sei so reif, dass für ihn das schärfere Erwachsenenstrafrecht anzuwenden sei. Am besten, ich zitiere einfach wortwörtlich aus diesem Schreiben unsere Schule, dass mir Henne damals aus seinen Gerichtsakten zur Verfügung stellte: [Schulbrief/Dr. Müller-Goerne] [Dieter Süverkrüp: Erschröckliche Moritat vom Kryptokommunisten] Nach alledem hatte Henne, die Intelligenzbestie, die aber leider kommunistisch war, keine Chance mehr, hierzulande zum Abitur zu kommen. [CDU-Wahlwerbespot/1957] Er ging in die DDR, wo er 1965 sein Abitur in Leipzig machte. Dort hat er auch seine Frau Helga kennengelernt, die mit ihm aus der DDR in die Bundesrepublik übersiedeln durfte, als er nach Detmold zurückkehrte. Nach einer Externenprüfung, denn das Abitur aus dem anderen deutschen Staat wurde damals nicht ohne weiteres anerkannt, immatrikulierte Henne sich dann 1966 an der Universität Münster, um Gymnasiallehrer zu werden – Fächer: Deutsch, Geschichte und Biologie. Er beendete 1971 sein Referendariat und bekam dann als Mitglied der Deutschen kommunistischen Partei das, was man in den 1970 er Jahren „Berufsverbot“ nannte. [Sprechchor: Weg mit den Berufsverboten!] Da kamen dann wieder Jahre, in denen der Kommunist nicht beruflich wie jeder andere arbeiten konnte. Aber nach dem der frühere Bundeskanzler Willy Brandt und mit ihm andere Sozialdemokraten in Regierungsverantwortung eingesehen hatten, dass der sogenannte „radikalen Erlass“ der siebziger Jahre für den öffentlichen Dienst ein Fehler war, wurde auch Henne in den Schuldienst übernommen und sogar noch Beamter. Heute genießt er mit seiner DDR-Frau den Lebensabend in einer Zuflucht in bayerischen Bergen. [Helmut Kohl: Blühende Landschaften] [Helmut Kohl: Zum 3. Oktober 1990] [Herbert Mies: Honeckers Saarland-Besuch]
Gesendet in SWR2: 13.08.2017
Upload Datum: 20.07.2017

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Dokublog Autor Lafargue

Zum Autor: Zoon politikon, geboren in der DDR vor dem Mauerbau, groß geworden in Westdeutschland, seit der Wiedervereinigung in Jena/Thüringen.

Website: http://www.platzdasch.homepage.t-online.de/

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