4.1.-3.2.20 Aus der Zeit gefallen - ein indisches Tagebuch
Feature von Rudiguricht
Dauer: 10:00 Minuten
Audio-Nr: #4590
Inhalt: ein Monat sporadisches Tagebuch, in dem ein Virus die Grenzen quert und ein Land sein Gesicht verändert.
Ereignis Ort: Hyderabad, Telangana, Indien
Skript: 4.Januar 2020
Ein grandioser Tag: ich erreiche nach 22 Stunden Reise die indische Stadt Hyderabad. Der tropische Winter empfängt mich mit 28 Grad Hitze, Verkehrslärm und einer recht eigentümlichen Whatsapp-Nachricht eines Freundes aus Halle:
"Es geht was Seltsames vor in China. Halt Dich von hustenden Leuten fern. Ich schick Dir bald mehr Infos."
Auf dem ruhigen Campus der Universität von Hyderabad angekommen, hab ich die Nachricht schon wieder vergessen. Niemand hustet hier, von mir mal abgesehen. Viel zu viel Zigarretten. Hier in Indien raucht fast Niemand. Kautabak dagegen ist populär und hinterlässt Spuren auf dem Boden und an Häuserwänden. Dafür sprechen alle vom neuen Einwohner-Meldegesetz des Staates. Denn dieses Gesetz spaltet die Gesellschaft.
5. Januar
keine Gespräche heute - nur die Gesänge der Vögel im wunderschönen Campusgelände zwischen Gesteinsbrocken und kleinen Seen, zwischen denen einfühlsam die Bauten der Uni platziert sind: centre for artifical intelligence. Was geht vor hinter den roten Mauern aus Wüstenstein?
Niemand hustet. Außer mir. xxxxxx
7. Januar
Hyderabad scheint vollkommen außer sich. Es ist eine Mischung aus Angst und Widerstand. Kein Gespräch über den Alltag ohne dass News eintrudeln über die Handy-Bildschirme. Jeder Satz kann jederzeit unterbrochen werden dadurch, dass sich ein Gesicht verfinstert, an Anruf eine neue Hiobsbotschaft bringt: die Uni ist abgeriegelt. Die Polizei hat Schilde und Helme und ein Wasserwerfer steht vorm Tor. Was mache ich hier? Auch auf meinem Handy eine Nachricht:
"Mannomann. Du musst Dir diese Bilder ansehen. Die sind bestimmt weg in einer halben Stunde. China ist schnell mit sowas."
Ja- sie sind weg, der Link führt ins Leere.
14. Januar
Wie spät ist es? Seit dem Morgengrauen ist es laut auf dem Campus. Studies protestieren gegen den brutalen Überfall auf das Unigelände in Delhi. Maskierte Schläger haben eine Versammlung des Indienweiten Studierendenrates gestürmt und mit Knüppeln selbst in privaten Unterkünften gewütet. Die Polizei hat sie gewähren lassen und alle hier vermuten, das ist kein Zufall. Ich bin ausdrücklich darauf hingewiesen worden, nicht teilzunehmen an irgendwelchen Protesten. Ich könnte ausgewiesen werden- sofort. Wohin mit meinen aufgewühlten Gefühlen?
Ich rauche heimlich auf dem Balkon des Gästehauses. Ein Steppenadler kreist über dem Gelände, das eher an Savanne, als an Elite-Uni erinnert. Ich rauche zuviel. Mein tabak-Vorrat aus Deutschland reicht nicht bis zum Februar. Aber muss er denn? Sollte ich hier aufhören, zwischen Uni-Streik und Katastropehn-Meldungen aus China? Was für eine Katastrophe überhaupt? Und es ist Krieg im Iran.
Wie spät ist es?
26. Januar
Ich komme nicht zum Nachdenken. Das Literaturfestival ist zwar vorbei - unser mobiles Radio hat Leute zum reden gebracht über nahezu Alles- Menstruation und Frauenrechte, Drag-Queens und Politik. Sogar Kashmir war Thema und die Ausgangssperren in Assam. Überall brodelt dieses Land- der Präsident Modi wird nicht thematisiert, aber der rassismus und die faschistische Attitude der regierung: Ich bin fast stolz auf diese Stadt- dieser Mut, diese Lust, das nicht hinzunehmen.
Und überall Graffiti: Assam ist überall. und Wir haben nur eine Religion: Und die heißt Säkularismus.
Ich bin ein teil geworden dieses Landes- ich fühle dieselbe Kraft, denselben Drive- Resist. Wenn es hier nicht gelingt, dann nirgendwo. Es ist die größte Demokratie der Welt.
Ich muss nach Assam. Wie spät ist es? Kann ich einen Flug bekommen? Ich habe einen Freund oben im Nordosten, dort, wo sich China mit Indien, Myanmar mit Bangladesh, Tibet mit Buthan trifft - Assam, ein Kindertraum am Brahmaputra. Ich muss dorthin.
eine Nachricht aus Deutschland:
O-Ton Youtube
WAs für Zeiten. Ich habe keine Angst. Ich habe noch tabak. Ich rauche.
3. februar
Lost in Beauty. Was für ein Land. Assam
Niemand redet über Krankheit, über chinesische Viren. Dort sterben Menschen auf der Straße.
Hier wird gekocht überall - auch für diejenigen, die kein Geld haben. Gesichter wie aus einem Märchen - allein in diesem kleinen Landstrich am Brahmaputra werden 220 Sprachen gesprochen. seit Jahrhunderten leben hier Menschen aus ganz Asien zusammen - und nie haben sich Herrscher lange gehalten, nicht Thai, nicht Briten, nicht Hindi. Der Fluss ist der letzte wilde große Fluss der Erde- jedes jahr ändert er seinen Lauf. Und der Kilometerbreite Strom schwemmt alles hinweg- selbst meine Sorgen: Komme ich zurück? Gibt es eine Pandemie? Ist es das Ende der Welt? Es gibt keinen Fall von Corona hier. Nicht einmal in ganz Indien.
Hier bin ich eh am Ende der Welt- der Welt, wie ich sie kenne. Militär überall spricht auch von Gewalt und Unsicherheit- aber auch das gehört zu den Erfahrungen der Menschen hier. Und sie lassen sich kaum davon beirren. Und ich könnte mir gut vorstellen hier zu bleiben und ein fremdes Gesicht mehr sein in dieser Mischpoke, diesem Miteinander ... auf dem vielleicht schönsten Flecken Erde, den ich je gesehen habe ... alles voller Leben und Wachstum und Geräuschen.
Mein Freund Mrigana sagt: Rauch nicht auf der Straße, das ist Tabu hier. Ich muss husten.
Upload Datum: 21.03.2020
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