Liebe Kinder.mp3

Feature von Weisfeld

Dauer: 4:53 Minuten

Audio-Nr: #4724

Inhalt: Teddy blickt auf sein langes Leben zurück, in dem er vor mehreren Generationen von Kindern geliebt wurde. Doch nun lastet ein schrecklicher Verdacht auf ihm, und er wird außerhalb der Familie untergebracht.

Ereignis Ort: Bremen, Germany
Skript: Autoren: Musik: Werner Dumski Bild: Matthias Berg Text: Matthias Berg, Michael Weisfeld Titel: Liebe Kinder. Mein Name ist Teddy. Ich bin  97 Jahre alt und im Laufe meines Leben von 34 Kindern geküsst, geknuddelt, von Herzen geliebt, aber auch herumgeschleppt und mehrmals vergessen worden. Einmal lag ich fast drei Wochen lang draußen in einer Pfütze. Es war Oktober, und es regnete immer wieder, sodass die Pfütze nicht austrocknete. Jeder Mensch hätte sich eine Lungenentzündung geholt. Ich nicht. Aber jetzt sagt meine Familie, ich gehöre in die Gruppe mit dem höchsten Risiko und hat mich hier abgegeben. Ich wollte das nicht, die Kinder auch nicht, aber die Oma hat es durchgesetzt. Ich war nicht überrascht. Die Oma war es nämlich, die mich, als sie ein Kind von sieben Jahren war, draußen in der Pfütze vergessen hat. Später wurde sie trotzdem eine nette Frau, aber jetzt hat sie Angst, ich könnte Viren in meinem Pelz haben. Dabei ist mein Pelz so schütter! Von dem ewigen Rumschleppen und den Küssen der Kinder 97 lange Jahre hindurch! Trotzdem haben sie mich hier abgegeben. „Schön hast du es hier“, sagte die Oma, machte aber schnell, dass sie wieder ins Freie kam. Dabei hat sie Recht: Das Haus macht Eindruck. Der weite Hof und alles so schön rund und übersichtlich! Aber wir dürfen nicht raus aus unseren Zimmern, nur zum Hofgang einmal am Tag. Und wenn sie jemanden abholen und auf die Intensivstation bringen, dann kommt er raus. Zuerst haben sie die Kranken geholt, die Krebs hatten oder ganz enge Adern, durch die das Blut kaum noch durch kam, oder sonst eine gefährliche Krankheit. Die brauchen ja zuerst Hilfe, das sehe ich ein. Aber ich gehöre ja nicht zu denen, ich nicht! Ich hab keine „Vorerkrankungen“, wie sie das nennen. Wenn man mir den Bauch aufschneiden würde, käme kerngesunde Holzwolle zum Vorschein, die riecht noch genau so frisch nach Kiefernharz wie bei meiner Fertigstellung vor 97 Jahren. Aber gestern kam eine neue Verordnung raus: Alle über 95 kommen auf die Intensivstation, egal ob krank oder gesund. Sie haben extra neue Geräte angeschafft, heißt es, und alle werden dort künstlich beatmet. Das muss ja eine Quälerei sein, wenn man einen Plastikschlauch in den Hals geschoben kriegt. Und dann runter bis in die Lunge! Ich kriege jetzt schon das Würgen. Und noch was macht mir Angst: Von der Intensivstation ist noch keiner zurück gekommen. Nicht einer. Deswegen hab ich mir überlegt … also, entschieden ist noch nichts … 97 Jahre ist ja ein stolzes Alter, das schafft nicht jeder … 34 Kinder habe mich heftig geliebt – wenn auch manches Mal vernachlässigt … also, wenn ihr nichts mehr von mir hört, seid herzlich gegrüßt, und wichtig: bleibt gesund! Euer Teddy
Upload Datum: 16.05.2020

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