Andrea Giuseppini

Kulturradio in Italien

Wie steht es um das Kulturradio in Europa? Mit welchen Schwierigkeiten haben Autoren zu kämpfen, was wollen Programmchefs? Diesmal geht es um Feature und Hörspiel in Italien. Andrea Giuseppini kennt sich da aus. Er ist Mitbegründer von Audiodoc, einer Vereinigung freier Featureautoren- und -autorinnen. Er hat für uns mit Marino Sinibaldi gesprochen, dem Wellenchef von Radio RAI Drei. Marino Sinibaldi Das Kulturradio hat sich in den vergangenen Jahren grundlegend verändert, aus mehreren Gründen: Erstens hat das Radio durch das Internet eine enorme Transformation erfahren, wie alle anderen Formen der Kulturvermittlung auch. Denn das Netz bietet heute eine Reihe kultureller Produkte, die früher schwieriger zugänglich waren. Sprecher In Italien gibt es nur ein Kulturradio, Radio RAI 3. Wellenchef ist seit 2009 Marino Sinibaldi, 59 Jahre alt. Die meiste Zeit seines Lebens hat Sinibaldi damit verbracht, Kultursendungen zu moderieren, insbesondere Literatursendungen. Er sieht das Radio vor allem als Kulturvermittler. Sinibaldi meint, das Kulturangebot des Internets sei heute eine große Konkurrenz für das Radio. Und er meint, darin lägen einige Chancen, mit Sicherheit aber auch große Gefahren. Marino Sinibaldi Was passiert, wenn zum Beispiel klassische Musik im Netz für alle zugänglich wird, wo sie doch zuvor nur den privilegierten Familien, oder aber über Radio 3 zugänglich war? Dasselbe geschieht mit literarischen Texten oder Kulturdiskussionen, die früher nur über wenige Zeitschriften oder das öffentlich-rechtliche Radio Verbreitung fanden. Das Netz ist voll kultureller Inhalte, auch guter, aber vor allem voller Inhalte armseliger Qualität. Zwischen gratis und armselig besteht dabei eine Wechselwirkung. Ich zahle nicht und begnüge mich mit schlechter Qualität. Und du gibst mir schlechte Qualität, weil ich nicht bezahle. Diese Wechselwirkung führt zu Qualitätsverlust. Das öffentlich-rechtliche Radio wie Radio 3 sollte dafür sorgen, dass die Qualität nicht zu stark leidet. Und es sollte dafür sorgen, dass Kultur einschließend und nicht ausschließend ist, also die Ungleichheiten nicht verstärkt. Mir macht die Vorstellung einer Welt Angst, in der das Internet allen gratis ein wenig von allem bietet, ohne Qualitätsmaßstab, und dann aber in abgetrennten Bereichen, denjenigen, die es sich ökonomisch und kulturell leisten können, andere Produkte zur Verfügung stellt. Wir können gewisse Werte nicht aufgeben, sonst verlieren wir unsere Kultur. Sprecher Der zweite Grund, weshalb das Kulturradio sich nach Meinung Marino Sinibaldis verändert, kann als spezifisch italienisch angesehen werden. Marino Sinibaldi Der zweite Grund jüngeren Datums ist die Finanzkrise, die den Konsum schwinden lässt, in Italien vor allem den Konsum kultureller Güter; denn in Italien ist das Verhältnis zur Kultur und zu Kulturprodukten ohnehin nicht sonderlich ausgeprägt. Hinter der Finanzkrise und der kulturellen, politischen und ethischen Degeneration Italiens steckt meiner Meinung nach reine Halsstarrigkeit. Man ist überzeugt, Kultur sei nicht wichtig. In Italien findet seit mindestens zwanzig Jahren ein unterschwelliger Kampf statt über die Frage, ob Kultur, kritisches Denken, tiefgehende Beschäftigung mit einem Thema und Auseinandersetzung notwendig sind oder nicht. Und ich befürchte, die Kultur wird durch eine Reihe politischer, ethischer und nunmehr auch wirtschaftlicher Faktoren marginalisiert. So betrachtet beinhaltet ein Kulturradio, wie das unsere, einen kämpferischen Auftrag, der neu ist. Sprecher Aber es ist ein schwieriger Kampf, vor allem angesichts der anhaltenden und massiven Kürzungen öffentlicher Gelder. In der Zwischenzeit wurden zahlreiche Mitarbeiter entlassen und Sendungen, die als zu teuer galten, aus dem Programm gestrichen, wie Hörspiele, Feature und andere im Studio produzierte und nicht live ausgestrahlte Formate. Vormittags sendet Radio 3 politische, kulturelle und wissenschaftliche Informationen, nachmittags Musik und kulturelle Hintergrundberichte im Wechsel. Auch wenn die Qualität hoch ist, scheint Radio 3 heute daher eher ein Medium der Kulturvermittlung, statt der Kulturproduktion, was es früher vielleicht war. Ein Radio, das von Kultur spricht, aber keine Kultur produziert. Wellenchef Marino Sinibaldi ist anderer Meinung. Marino Sinibaldi Die Unterscheidung zwischen Kulturproduktion und Kulturvermittlung leuchtet mir nicht ein. Die große Herausforderung ist vielmehr die einzelnen Sendungen miteinander zu verbinden, isolierte Inhalte zu vermeiden und zum Verstehen und Interpretieren anzuregen. Das ist das Radio, das mir vorschwebt, und nicht eines, das Kultur produziert. Denn was soll das heißen, Kulturproduktion? Theaterstücke produzieren, Bücher herausgeben, Sprachexperimente durchführen? All das geschieht in der Gesellschaft, und ich glaube kaum, dass ein Radio, das diese unterschiedlichen Realitäten miteinander verbindet, geschwächt ist. Ein Radio, das kontinuierlich versucht, zu verbinden, was in der Gesellschaft geschieht, scheint mir genau das zu tun, was die heutige Zeit von einem Kulturradio verlangt. ------- Unter O Ton 1661 findet sich ein Gespräch mit Roman Herzog über die Vereinigung freier italienischer Feature-Autoren audiodoc.

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