Vom gnädigen zum gnadenlosen Medium. Von Bernhard Pörksen: Hallo! Wir sind im Radio! Und Radio – das bedeutet Mündlichkeit. Und Mündlichkeit heißt Vergänglichkeit. Was gesagt wird, das verweht und vergeht schon im Moment des Sprechens und bleibt allein in unserer unvermeidlich ungenauen, unvermeidlich fehlerhaften Erinnerung gespeichert. Wenn wir nicht mehr da sind, wenn es uns, den einzelnen Menschen, als den entscheidenden Erinnerungsträger nicht mehr gibt und das Gesagte nicht irgendwo aufgeschrieben wurde, dann fehlt das letzte, wenn auch stets unpräzise Zeugnis des-sen, was gesprochen wurde. Das Gesagte ist dann für immer weg. Eben deshalb könnte man zu der Behauptung kommen: Das Radio ist im Medienverbund (im Unterschied zum Gedruckten, im Unterschied zum Gefilmten, im Unterschied zum Fotografierten) eigentlich ein gnädiges Medium, weil sich das Gesagte versendet, weil es einfach so vorbei rauscht – und dies zum Entsetzen der Radiomacher oft schon im Moment der Sendung selbst. Das Geschriebene und Gedruckte hat hingegen, so heißt es, Bestand. Schon der Akt der Verschriftlichung entreißt die in ihr verschlüsselten Inhalte der Vergänglichkeit und kreiert ein öffentliches, von der einzelnen Person abgelöstes Gedächtnis. Und auch Foto und Film sind Medien der Erinnerung. Sie memorieren punktuell. Sie frieren den Augenblick fest – und besitzen deshalb oft eine eigene Aura der Melancholie, weil sie Vergänglichkeit und Tod im Moment der Ver-gegenwärtigung erfahrbar machen. Das Lächeln bleibt auf den Bildern, die Fröhlichkeit und die Traurigkeit, der Tanz und diese eine, diese eine ganz besondere Bewegung, obwohl es den Menschen vielleicht gar nicht mehr gibt, den man hier gerade so plastisch und scheinbar lebendig vor sich sieht. Nur das Gesagte verwischt und verweht. Und eben deshalb ist das Radio das gnädige Medium, könnte man meinen. Hallo, sind Sie noch da? Wir sind im Radio! Und jetzt ist es an der Zeit, die These von der eingebauten Gnade des Mediums zu widerrufen. Sie stimmt nämlich nicht bzw. sie stimmt nicht mehr. Auch das Radio ist, wie kann es anders sein, von dem Epochenbruch der Digitalisierung infiziert, beeinflusst, bestimmt. Was heißt das? Das heißt, dass sich auch die einzelnen Sendungen mit einem Mal im Netz wiederfinden lassen, abrufbar über die Webpräsenz des Radiosenders, nachhörbar, reproduzierbar. Die Folge: Gesprochenes lässt sich präzise und punktgenau zitieren, kopieren, verbreiten. Und die gerade noch flüchtige Mündlichkeit geht, wie der Netz-philosoph Peter Glaser einmal so erhellend gesagt hat, in einen anderen, einen „neuen Aggregatzustand“ über. Sie wird zur abrufbaren, bei Bedarf aktualisierbaren Gegenwart. Sie wird fest, statisch. Was diese Abschaffung der Vergänglichkeit bedeutet, wird deutlich, wenn man sich an das Medienschicksal des ehmaligen Bundespräsidenten Horst Köhler erinnert, wenn man an diesen merkwürdigen, plötzlichen aufflackernden Skandal um die wenigen Sätze zurück denkt, die zuerst im Radio gesendet wurden, dann plötzlich wiederkehrten, explodierten. In der Nacht des 21. Mai 2010, auf dem Rückflug von Afghanistan hat Horst Köhler einem Radioreporter ein Interview gegeben, dessen entscheidende Passage lautet: „In meiner Einschätzung“, so Horst Köhler, „sind wir insgesamt auf dem Wege, in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe, mit dieser Außenhandelsabhängigkeit, auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren – zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch negativ auf unsere Chancen zurückschlagen, bei uns durch Handel Arbeitsplätze und Einkommen zu sichern.“ Das Interview wurde ausgestrahlt. Aber kaum jemand interessierte sich dafür. Kein Journalist nahm Anstoß. Nur ein paar Blogger gruben diese Sätze wieder, kopierten und verbreiteten sie. Es entstand, zunächst nur im Netz, eine erregte Diskussion von wenigen. Hatte hier der Bundespräsident höchstselbst den Verfassungsbruch empfohlen? War das die Rechtfertigung eines Wirtschaftskrieges zur nationalen Wohlstandssicherung? Ein Student der Medien- und Politikwissenschaft aus Tübingen schrieb in seinem Blog über diese Sätze – ich zitiere erneut: „Die Sprengkraft, die diesem Zitat innewohnt, ist riesig.“ Und weiter: „Dass ein deutscher Bundespräsident derart unverhohlen Militäreinsätzen das Wort redet (...), dass er ungeniert wirtschaftliche nationale Interessen mit Waffengewalt zu sichern erwägt, ist ein Skandal.“ Und weil er in den Pfingstferien Zeit hatte, beließ er es nicht beim Bloggen. Er schickte per Mail an die Online-Redaktionen aller großen Zeitungen und an alle großen Nachrichtenagenturen die Anfrage, warum man nicht über den Fall berichte, er fasste über Twitter nach; manche Redaktionen dankten ihm und schrieben, sie würden nun reagieren, man habe die Brisanz dieser Sätze schlicht übersehen. Und plötzlich war das Thema da. Bei Spiegel Online, dem entscheidenden Agendasetter, erschien der Artikel „Bundeswehr in Afghanistan – Köhler entfacht neue Kriegsdebatte“. Die Frankfurter Rundschau legte kurz darauf nach. Im Spie-gel wurde Horst Köhler schließlich in bislang beispielloser Schärfe als „Horst Lübke“ attackiert. Das Ende dieser Ge-schichte ist bekannt. Horst Köhler trat schon kurze Zeit später, gemeinsam mit seiner Frau, verletzt und fassungslos, vor die Presse – und erklärte seinen Rücktritt vom Amt des Bundespräsidenten. Aber was zeigt diese Geschichte eigentlich? Die Antwort lautet: Sie zeigt nicht nur die Macht der Blogger, sondern ebenso das neue Gesicht des Radios. Die neue Botschaft des Mediums: Auch das vermeintlich Ephemere bleibt bestehen. Das Medienschicksal des ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler geht – so gesehen – uns alle an, weil es in dramatischer Form illustriert, dass sich nichts mehr versendet. Digital vorliegende Spuren sind nie wirklich weg. Sie tauchen womöglich irgendwo und irgendwann wieder auf – und explodieren im Extremfall zum Skandal. Auch das Medium der programmierten Vergänglichkeit und Flüchtigkeit, das Radio, hat sich im digitalen Zeitalter entscheidend verändert. Es ist vom gnädigen zum gnadenlosen Medium geworden. Bernhard Pörksen, 43, ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Kürzlich veröffentlichte er – gemeinsam mit Hanne Detel – das Buch „Der entfesselte Skandal. Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter.“ Das Buch zum Thema: Bernhard Pörksen und Hanne Detel zeigen in ihrem Buch „Der entfesselte Skandal“ am Beispiel von zahlreichen Fallgeschichten, dass die Reputation von Einzelnen, aber auch von Unternehmen und Staaten blitzschnell zerstört werden kann. Im Zeitalter der digitalen Überall-Medien und der wechselseitigen Dauerbeobachtung ist der Skandal allgegenwärtig. Jeder kann ihn auslösen, jeden kann er treffen – ohne eine Chance der Gegenwehr. „Handele stets so“, so lautet der kategorische Imperativ dieses neuen Zeitalters, „dass Dir öffentliche Effekte langfristig vertretbar erscheinen. Aber rechne damit, dass dies nichts nützt.“ Ihr Buch ist dieser Tage im Herbert von Halem Verlag (Köln) erschienen und kostet 19,80 Euro.