Radio, behaupten viele, sei ein Anachronismus geworden, aus der digitalen Zeit gefallen. Dem ist energisch zu widersprechen, und eine persönliche Einleitung des Einspruchs sei gestattet. Radio höre ich, seit ich denken kann: Bach und Beethoven beim Mittagessen mit den Eltern, Chris Howland aus dem Studio B des Westdeutschen Rundfunks, David Lambs’ Saturday Show im Soldatensender BFBS an geschwänzten Samstagvormittagen, die Bundesliga-Konferenz der ARD, das Kritische Tagebuch (KaTe) im WDR III. Radio mache ich seit 40 Jahren, vom KaTe bis zur Lesart Spezial für DeutschlandradioKultur. Ich bin also, was Radio betrifft, parteiisch und kaum zu haben für Media-Analysen, die den heutigen Zustand des Rundfunks mit gegriffenen Einschaltquoten und geschönten Werbe-anteilen hochjubeln. Das Radio, bis in die 1960er Jahre vorherrschendes Medium für Information, Unterhaltung und Urteilsbildung, ist hinter Fernsehen und Internet in eine Nische abgerutscht, zum Begleitmedium geschrumpft. Die Privatisierung hat auch hier üble Spuren hinterlassen, und die öffentlich-rechtlichen Sender haben sich angepasst. Radio hört man, wie die meisten von Ihnen gerade, im Auto, beim Kochen und Bügeln, als Hintergrundrauschen. Aber man hört es, wie ebenfalls viele von Ihnen, oft in einer gewissen Treue und Andacht. Und immer öfter nicht mehr zum Zeitpunkt der aktuellen Ausstrahlung, sondern als Podcast im Netz, auf Konserve, zu einem selbstgewählten Zeitpunkt. Zudem sind viele Rundfunksendungen, zum Leidwesen der Zeitschriftenverleger, online nachlesbar. Das ist die späte Radiorevolution: Man stellt sich sein Programm selbst zusammen, mittlerweile auch aus einem weltweiten Internet-Angebot, und was einmal gesendet wurde, versendet sich eben nicht, sondern ist lange Zeit on demand im Archiv zu finden. Mit klugen, wählerischen Hörerinnen und Hörern winkt dem Rundfunk womöglich noch eine ganz neue Ära. Deswegen mache ich mir Sorgen, wenn Radiomoderatoren sich an die Sozialmedien anwanzen, Programmdirektoren Einschaltquoten zum alleinigen Kriterium erheben und das Radio als Stimmungsmodulator gelten lassen. Sogenannte Rundfunkgewaltige, die das gute alte Radio magazinisiert, beschleunigt, filetiert und verdudelfunkt haben, scheinen das Potenzial des ihnen anvertrauten Mediums nicht realisiert zu haben. Ich setze aufs Radio, weil es das aktuellste, reflektierteste, nutzerfreund-lichste, ja demokratieverträglichste Medium ist. Es versenkt seine Botschaften nicht in einer Bilderflut, erschöpft den Austausch mit dem Publikum nicht in geschmacklosen Chats, schätzt sich nicht ein nach oberflächlichen Daumen hoch- und Like it-Bewertungen, simuliert bürgerliche Teilhabe nicht wie Fernseh-Talkshows mit überlebensgroßen sprechenden Politikerköpfen. Radio ist, sofern man sich seine Möglichkeiten etwas kosten lässt, immer noch das schnellste Informationsmedium. Und indem es ein Weltbild über das Ohr erzeugt, ist es auch das passendste Kommunikationsmedium. In diesem Sinne hat schon der Kritiker Rudolf Arnheim 1933 von Hörkunst gesprochen. Das war in der Frühzeit des Rundfunks, gemünzt auf eine heute fast vergessene Kunstform, das Hörspiel. Allgemeiner vermittelt das Radiohören eine besondere Form von Zeitgenossenschaft, von Acht- und Aufmerksamkeit. Das sind Bildungsgüter, die dem rasenden Stillstand heutiger Gesellschaften und dem Rummel der Bild-Medien angenehm entgegenstehen. Dass das Radio aus der Zeit gefallen zu sein scheint, ist also seine ganze Stärke.