"Das goldene Zeitalter des Radio"

Silvain Gire, Chef von ARTEradio

Wolfram Wessels im Gespräch mit Silvain Gire: WW: Was wissen Sie über ihre Hörer? SG: Zuerst dachten wir, die wären jung, weil wir online waren. Wir haben vor 10 Jahren begonnen, und da hatten die meisten Franzosen auf der Arbeit Internet-Zugang. Deshalb haben uns unsere ersten Hörer am Arbeitsplatz gehört, während einer Pause, oder bevor alle wieder im Büro waren. Oder die Routinearbeiten erledigen mussten haben uns über Kopfhörer gehört. Wir haben diese Hörer immer noch, aber inzwischen sind alle im Internet. Leute, die Hörspiele und Feature mögen, sie sind 40 oder 60 Jahre alt, leben auf dem Land, nehmen sich die Zeituns zu hören. Einige hören uns am Computer auf den kleinen Lautsprechern, aber junge Leute hören uns auf dem i-phone als podcast. Sie haben dauern Kopfhörer auf und hören uns so. WW: Muß man immer erst downloaden oder haben Sie auch einen durchlaufenden stream? SG: Ja wir streamen, haben einen podcast, eine app für smartphones, apple und android. Man braucht heute alle Kanäle. Zum download bieten wir auch unterschiedliche Qualitäten an. Hörer in Afrika z.B. haben keinen schnellen Internetzugang. Wir haben aber eine hohe Qualität, die braucht man für den podcast. Da hört man sehr intensiv. WW: Beim streaming gibt es keinen Ansager, einfach ein Stück nach dem anderen. SG: Genau. Für mich braucht online radio und podcast keinen Ansager, weil die Hörer wissen, was sie hören wollen. Außerdem gibt es eine kurze Textzeile dazu: das ist ein Feature zu dem oder dem Thema, es gibt eine Zeitangabe und ein paar Stichwörter. Die Leute wollen überrascht werden, sie wollen sofort mittendrin sein. Es gibt keinen Ansager, keinen Erzähler – das ist eine komplett neue Art von Radio. WW: Wie viele Hörer haben Sie denn, können Sie eine Zahl sagen? SG: Wir haben rund 100.000 Hörer im Monat und die hören sich die unterschiedlichsten Sachen an, 3-4 im Schnitt, das ist sehr viel. Und wir können von allen Medien übernommen werden: wir haben etwa einen externen player, den jeder auf seine Seite übernehmen kann, z.B. auf seinen blog. Wir haben z.B. ein Feature über das Thema Liebe und muslimische Frauen gemacht. 5 junge französische Muslima reden darüber, wie das ist, wenn sie eine Beziehung zu einem Nicht-Muslim hätten, die Konsequenzen in der Familie etc. Auf ARTE radio hatten wir vielleicht 15-20.000 Hörer. Dann hat die Zeitschrift CQ das auf seine website übernommen, diese Sendung mit dem ARTE radioplayer. Dort wurde es von viel mehr Hörern gehört. Das ist das Interessante: die Sendungen können überall hin wandern. Du kannst sie auf facebook packen – überall hin. WW: Auch on air? SG: Auch on air. Alle Sendungen sind durch die Creative Common lincence geschützt. Die erlaubt aber, daß sie kommunale Radiostationen sie kostenlos übernehmen können, wenn sie nicht kommerziell sind und ohne Werbung. Und das tun sie. So multipliziert sich die Hörerzahl nochmals. Auch Lehrer und Studenten können sie kostenlos nutzen. WW: Aber sie haben keinen Überblick, wo was gesendet wurde und wieviele Hörer es da gab? SG: Manchmal wissen wir das. Das sind oft ganz kleine Lokalradios, manchmal Campus-Radios von Universitäten, es gibt da einen Verband der College-Radios in Frankreich, wir wissen von Radios in Marseilles und Bordeaux. Manche sind winzige Sender auf dem Land. Das wichtige sind nicht nur die Hörer, sondern die Wirkung. Und die ist enorm, weil wir die ersten waren. Wir machen das seit 10 Jahren, und jetzt kommen all die jungen Leute, die diese Art von kreativem Radio mögen, das wir auch hier beim Prix Europa hören, die sind online. Kein 20jähriger hört heute ein Hörspielon air, das ist klar. Ganz wenige Studenten hören Features on air. Ihr ganzes Leben ist heute online, der Zugang zur Kultur ist online, so entdecken sie uns, ihnen gefällt es und dann kommen sie zum traditionellen Radio.Insofern gewinnen wir neue Hörer. WW: Heute morgen haben Sie vom neuen goldenen Zeitalter des Radios gesprochen. Was heißt das? SG: Das heißt, dank podcast und Internet haben noch nieso viele Leute kreatives Radio gehört. Kreatives Radio in Frankreich, und das gilt, glaube ich, auch für Deutschland, bedeutet inzwischen etwas. Das war nichts vor 10 Jahren. Es gab nicht viele, die sich für Hörspiel oder Feature interessierten. Heute kriege ich täglich Briefe, es gibt Festivals, und wenn sie nicht mit uns oder einer großen Rundfunkanstalt arbeiten wollen, machen sie es selbst. Die Aufnahmegeräte sind billig, die Schnittsoftware kostet nichts oder wenig, dank der Digitaltechnik, und wenn du senden willst, mußt du es nur online stellen. Du machst einen blog, stellst es auf soundcloude, was auch immer. Und das hat auch die Formen verändert. Diese Leute brauchen uns nicht mehr. Natürlich verdienen sie kein Geld – einige vielleicht schon, weil sie gut sind, manchmal gewinnen sie auf Festivals. Ich denke, mit dem Radio passiert das, was mit der Musik vor 10 Jahren passiert ist: das war Punkrock. Das ist wieder eine neue Welle. Wir sind eine Art Dinosaurier. Wir sind die alten Professionellen, brauchen große Studios, viel Technik, viel Geld. Diese Leute sind sehr schnell – gut manchmal ist das nicht sehr professionell und nicht wirklich gut – inzwischen sind sie aber gut. Vor 10 Jahren haben wir in ARTE radio mit Anfängern gearbeitet, wir haben mit ihnen gearbeitet, sie unterrichtet. Mittlerweile gibt es ganz viel solche Trainings in Frankreich. Ich weiß allein von 3 neuen Festivals, die von Studenten organisiert werden, und da kommen hunderte von Studenten aus ganz Frankreich hin. Und die kommen um 3 Tage lang kreatives Radio zu hören. Das hat es vorher nicht gegeben. Es ist eine relevante Form geworden, sich auszudrücken. Sich über Songs, Aufnahmen und Collagen auszudrücken, ist für die junge Generation wichtig geworden.

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