Was das Internet am linearen Radio ändert - wenig und doch alles.
Der Zauber, den die Radioprogramme ausstrahlen, ist ungebrochen und immer noch hören die Leute gerne zu. Auch in der Schweiz, die kurzzeitig den öffentlich rechtlichen Rundfunk abschaffen wollte, ist das Radio von allen Medien am wenigsten umstritten. Klar, seit der Einführung des Fernsehens, sind die Leute vom Radio zwar nicht mehr ganz die angesagtesten Gäste auf der Party, weil sie die totale Aufmerksamkeit an die Flimmerkiste abtreten mussten. Aber nun können die Kolleginnen und Kollegen des bewegten Bildes am eigenen Leibe spüren, wie es ist, Relevanz an ein anderes Medium zu verlieren. Das Internet mit seiner zeitunabhängigen Nutzung sägt ziemlich am Stuhl des visuellen Funks.
Dazu eine Anekdote einer Bekannten aus Zürich, die zu Hause kein klassisches Fernsehen mehr schaut. Da sagte eines Tages die Tochter nach einem Besuch bei einer Freundin: ‚Mama, die haben ein Gerät, aus dem etwas kommt, das niemand schauen will!’ - So schnell kann’s gehen. Ein bisschen Schadenfreude macht sich zwar bei den Radioleuten breit, aber auch ein bisschen Sorge, ob das Internet nun auch das Radio ebenso umbauen wird wie Fernsehen und Presse. Sich davor zu fürchten ist allerdings nicht angesagt, weil das klassische Radio seit Bestehen schon einiges erlebt hat.
Mit der Einführung des tragbaren MP3 Players und der dazugehörenden Software förderte das zeitversetzte Audioangebot, sogenannte Podcasts, ein bisschen Transpiration unter die Arme und auf die Stirn der Verantwortlichen der Radiostationen. Ein kurzer aufflammender Aktionismus machte sich bemerkbar. Es wurden Inhalte, die bereits über den Sender gingen, einfach nochmals ins Netz gestellt. Danach kratzte man sich verwundert an der Stirn und fragte sich, warum dabei nicht die Hörer-Zahlen generiert wurden, wie sie die hochgerechneten Umfragen, erwarten liessen. Dieser erste Podcast-Hype aus den Staaten ging also nicht so durch die Decke, dass sich jemand ernsthaft Sorgen machen musste.
Auch der jetzige, zweite Podcast-Hype hat nicht gleich die Antennen von den Hügeln gerissen. Das einzige was sich gerade ändert ist, dass nun die Wellenchefinnen und - chefs fordern, „was wie ‚Serial’ zu machen“. Ein investigativer Podcast aus den USA, der den Mordfall der 17 jährigen Hae Min Lee wieder aufrollte. Er war so erfolgreich, dass er Macher auf der ganzen Welt animierte, auch eine TrueCrime Geschichte aus der Kiste zu zaubern und alte Fälle wieder aufzurollen. Den einen gelingt das schon sehr gut, anderen weniger, aber das Radio werden sie nicht ersetzen. Uff, nochmals Glück gehabt. - So lange wir stabile Zahlen haben - ¯\_(ツ)_/¯ - Why worry?
Eine andere Angriffswelle startete in den frühen 00er Jahren Last.FM, mit dem mir ersten bekannten Versuch, das lineare Radio direkt in seinem Kern zu treffen: Beim Musikteppich. Auch wenn alle Radios Ihre Personalities, Informationen und Beiträge hervorheben, die Musik macht weit über die Hälfte ihrer Inhalte aus. Aber auch hier brauchte es mehrere Evolutionen diverser Plattformen im Internet, bis sich wirklich jemand ernsthaft Sorgen machen wollte. Spotify, Deezer & Co. entwickelten sich erst allmählich zu einer Konkurrenz.
Einen echten Tiefschlag haben wir leider dennoch zu vermelden: Den ersten Platz in der Kategorie ‚schnellstes Medium‘ musste das Radio der ‚Pushnotification‘ abgeben. Plötzlich sind die Leute bereits informiert, bevor jemand überhaupt den Regler öffnen und das Geschehene in Worte fassen kann - ‚Agenturmeldung copy-past-push‘ ist schneller. Aber auch das scheint dem Radio nichts anzuhaben. Ein bisschen verlieren wir, aber das machen die anderen ja auch. Etwas Hörerzahlen Ping Pong mit der Konkurrenz - kennen wir.
Wie also Leute zu neuen Ideen bewegen, wenn doch alles in Butter ist? Eine klassische Methode ist die Holzhammermethode. Die Ausrufe aller apokalyptischen Medienseher und schlecht rasierten Audiohipster bei Fachtagungen: ‚Die Digitalisierung ist da - Ihr seid alle verloren’ konnten mit den vorliegenden Hörer-Zahlen nicht gestützt werden. Somit also alles nur ein Hype? Eine Hysterie? Da ich auch so ein Audiohipster bin, möchte ich aber auf etwas hinweisen: Unter Risikoinvestoren gilt die Faustregel, eine Technologie, die seit mehr als 80 Jahren besteht, muss bereit sein sich zu verändert . Dies gilt für die Verbrennung von fossilem Brennstoff wie auch für die Medienbranche. ‚Wieder so eine apokalyptische Rede‘ werden sie jetzt sagen. Verstehen sie mich bitte nicht falsch. Ich sage nicht, dass das klassische Radio verschwinden wird. Und zwar aus einem einfachen Grund. Es verschwindet nichts einfach so, was mal eine gewisse gesellschaftliche Wucht hatte. Nehmen wir die Oper und das Schauspiel: beide füllen auch heute noch grosse Säle. Aber ist deshalb ihre gesellschaftliche Relevanz die gleiche wie früher? Eben. Und genauso ist es mit dem linearen Radio. Es hat seine Berechtigung, wird aber mit jedem neuen Service, der im Audio-Bereich angeboten wird, an Relevanz verlieren.
Ich bin zum Beispiel der Überzeugung dass das Hören von linearem Radio nicht mit dem von Audio on demand Inhalten vergleichbar ist. Dem laufenden Radioprogramm kann ich Aufmerksamkeit schenken, aber nicht mit der gleichen Intensität, wie einem bewusst ausgewählten Audio. Ausser ich hab eine Lieblingssendung, die sich so sehr in meine Alltagsroutine eingegraben hat, dass ich wegen ihr automatisch das Radio einschalte. Bei abrufbaren Audioinhalten im Internet wähle ich bewusst aus und schenke ihnen somit meine volle Aufmerksamkeit. Und wenn ich dem Leadtext auf den Leim gegangen bin und mich dessen Inhalt nicht interessiert, kann ich einfach weiter gehen. Abrufzahlen von zeitunabhängigen Diensten sollten daher mehr Gewicht erhalten, als dies bislang der Fall ist.
Auch die Werbeindustrie kann im Netz ohne grösseren Streuverlust ihre Produkte zielgerichteter und mit höhrerer Aufmerksam an ihre potentiellen Kunden bringen. Aber was erzählt hier ein öffentlich-rechtlicher Medientyp von Werbestrategien, wäre ja noch schöner ... Drum wieder zurück auf die Allgemeinplätze.
Spannend ist die Erwartungshaltung zu beobachten, die annimmt, daß neue Entwicklungen sofort grosse Erfolge liefern müssen. Bei der Einführung neuer Technologien wird zu schnell mit dem Ist-Zustand verglichen und dann kritisiert, dass die Ergebnisse im Vergleich zum bestehenden winzig sind. Zu Beginn des Radios im Jahr 1923 gleich nach der Erteilung der Testkonzession in der Schweiz, gab es 980 angemeldete Radiogeräte. 2 Jahre (!) später waren es erst 38’500. Klar waren die Umstände damals andere als heute, aber trotzdem ist nicht von der Hand zu weisen, dass auch das gute alte lineare Radio nicht eine von 0 auf 100 Technologie war.
Jede Erneuerung braucht seine Zeit, bis sie in der Gesellschaft angekommen ist. Gefährlich aber ist, die neuen Möglichkeiten gering zu schätzen mit dem Argument, dass sie zurzeit wenig Nutzen aufweisen. Aus diesem Grund gilt es meines Erachtens, jede neue Technik danach zu beurteilen, was sie für die eigene Branche bedeuten könnte. Gibt es einen oder mehrere veränderte Parameter die bestehende Angebote verbessern könnten? Vor diesem Hintergrund ist die Chance, die uns das Internet mit seinem Rückkanal bietet, zu sehen. Sie müsste von jedem, der Audioinhalte produziert, aus vollem Herzen ergriffen werden.
Audioinhalte über das Internet zur Verfügung zu stellen, birgt aber auch Risiken. Denn auch hier gibt es zu kurz gegriffene Initiativen, die einzig das Internet als heilbringende Technologie ansehen: ‚Ja, wir haben eine Website und stellen dort unsere Inhalte hinein. Ja, wir sind digital‘. Die digitale Auslage der kompletten Audioinhalte des Radios im Netz überfordert aber die meisten Nutzerinnen und Nutzer und dies zeigt sich dann bei der Nutzung der Inhalte. Der Computer ist per se kein Audiogerät. Mit dem Bildschirm, dem Trackpad, der Maus und der Tastatur ist er ein Gerät, das für die Interaktion gebaut wurde. Beim Smartphone ist es noch deutlicher, dort ist der Bildschirm zugleich Interaktionsplattform. Zum Glück kann aber bei letzterem der Bildschirm abgeschaltet, das Gerät mit dem Kopfhörer verbunden und in die Tasche gesteckt werden. Aber es bleibt dabei: Unkuratierte Bibliotheken zeigen einzig die Vielfalt an Produktionen einzelner Sender, helfen aber noch nicht beim Auffinden von Inhalten. es ist wichtig, sie so zu markieren beziehungsweise zu beschlagworten, dass sie von den gängigen Suchmaschinen indexiert und anschliessend bei passendem Suchbegriff angezeigt werden können. Ein komplettes Audioarchiv unkuratiert und nicht suchmaschinenoptimiert ins Netz zu stellen, ist leider wenig sinnvoll.
Die Lösung liegt für mich in der Mitte. Zeitunabhängige Inhalte anbieten, aber als skipbaren Stream. D.h. dass ich durch einfaches Überspringen einzelner Elemente des linearen Programms navigieren kann ohne Inhalte vorher ausgewählt zu haben. So werden die beiden Welten des linearen und des zeitunabhängigen Audiokonsums zusammengebracht. Zum Beispiel mit den neuen Smartspeakern. Das sind Lautsprecher mit denen ich via Internet ausschliesslich mit meiner Stimme interagieren kann und die mir die gewünschten Audios abspielen. Es reicht ein schlichtes ‚Alexa, weiter‘ um in den einzelnen Radioinhalten zu navigieren. Dies ist endlich wieder ein bahnbrechendes Angebot in der Verbreitung von reinen Audioinhalten. Linearität stellt sich nicht nur beim klassischen Radio ein, sondern grundsätzlich, wenn ein Audioinhalt abgespielt wird und dabei bei der Zuhörerin oder dem Zuhörer Zeit abläuft. Der Begriff „Live Radio“ ist also eigentlich relativ. Mit den Navigationsmöglichkeiten, die das Internet bietet, würden wir aus der ‚one size fits it all’ Falle rauskommen, die der klassische, lineare Rundfunk mit der ‚einer für alle‘ Technologie mit sich bringt.
Weniger Kompromisse in dieser kompromisslosen Zeit! Mein Problem mit den bestehenden Radiostationen, die mit Hot Hot Hot Rotationen und flachen Witzen für mich einzig Abschaltfaktoren produzieren, wäre dann auch gelöst. Das lineare Radio muss nur durch ein Feature ergänzt werden, das alles verändern wird - den Skip Knopf. Wenn das, liebe Rundfunkmacher, nicht reicht um das Radio vom Internet her zu denken, hier noch ein kleiner Einwurf von Albert Einstein, der das mit der Relativität ziemlich im Griff hatte: Die Definition von Wahnsinn ist, immer das gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.