Es ist nur ein Gerücht, dass Carsten Linnemann, der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, ein "Grundschulverbot" für Kinder gefordert hat, die kaum deutsch sprechen. Die Nachrichtenagentur dpa, die das so gemeldet und getwittert hatte, hat die Meldung später korrigiert und den Tweet gelöscht. Allerdings brauchte sie eineinhalb Tage für diese Korrektur, und das war eine lange Zeit, in der Linnemanns vermeintliche Forderung richtig viel Schwung entwickeln - und richtig viel Gegenwind provozieren konnte.
Was Linnemann wirklich gesagt hatte, war einerseits eindeutig dokumentiert: Seine angebliche Forderung stammt nämlich aus einem Interview, das er der "Rheinischen Post" gegeben hat. Die hatte es allerdings hinter einer Paywall veröffentlicht - wer es lesen wollte, musste zahlen. Damit hatte es für viele Nutzer, die das nicht taten, tatsächlich ungefähr den Status eines Gerüchts, das sich nicht eindeutig aufklären ließ. Die "Rheinische Post" stellte aber immerhin eine kostenlose Zusammenfassung online. Doch es ist unklar, wer auch die überhaupt gelesen hat. Denn kaum eine längere Fassung kam gegen die schlichte emotionale Wucht des Wortes "Grundschulverbot" an.
In ihm stecken auf kleinstem Raum größte Fragen, die Menschen wirklich bewegen, persönlich und politisch: Die Erziehung ihrer Kinder und die aufgeladene Debatte über Migration und Integration. Und natürlich die Drastik und zweifelhafte Logik einer Forderung, die scheinbar darauf hinausläuft, Kinder, die benachteiligt sind, dafür auch noch zu bestrafen. Und so könnte die ganze Sache ein weiteres Beispiel für etwas sein, das leider häufig passiert: Durch eine unzulässige Zuspitzung von Medien in Verbindung mit der unendlichen Verstärkungskraft und Emotionalisierung sozialer Medien gerät eine Nachricht auf die schiefe Bahn.
So einfach ist es aber nicht. Denn Carsten Linnemann hat zwar nicht wörtlich von einem "Grundschulverbot" gesprochen - deshalb ist es auch richtig, dass die Agentur dpa ihre Meldung korrigiert hat, die diesen Eindruck erweckte. Im Ergebnis laufen seine Aussagen aber auf ein solches Verbot hinaus. Linnemann sagte wörtlich: "Es reicht nicht nur, Sprachstandserhebungen bei Vierjährigen durchzuführen, sondern es müssen auch Konsequenzen gezogen werden. Um es auf den Punkt zu bringen: Ein Kind, das kaum deutsch spricht und versteht, hat auf einer Grundschule noch nichts zu suchen. Hier muss eine Vorschulpflicht greifen, notfalls muss seine Einschulung auch zurückgestellt werden." Linnemann spricht davon, "Konsequenzen" zu ziehen, und von Kindern, die auf einer Schule "noch nichts zu suchen" hätten. Auch wenn er das Wort "Grundschulverbot" nicht benutzt hat - die Schärfe und Wucht hat er selbst in die Debatte gebracht. Bemerkenswert ist auch, wie er auf das Thema kam. Ursprünglich gefragt wurde er, wo die CDU sich profilieren müsse. "Ganz klar bei der Integration", antwortete er und kam dann von den der Tat auf dem Frankfurter Bahnsteig und der Schwertattacke in Stuttgart über die Angst vor Parallelgesellschaften zur Einschulung der Erstklässler.
Nicht schlecht, kommentierte die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" zu recht, "in ein paar Sekunden Sechsjährige, die sich hauptsächlich für X-Men oder die Eisprinzessin interessieren, mit Schlägern und Mördern in Verbindung zu bringen." Es sei Linnemann darum gegangen, "durch eine Stigmatisierung von Kindern von Ausländern Punkte in der deutschen Mittelschicht zu sammeln". Das ist in der Meta-Debatte, ob Linnemann Unrecht geschah, als ihm die Forderung nach einem "Grundschulverbot" untergeschoben wurde, etwas untergegangen. Aber vielleicht hat es trotzdem funktioniert.
Währenddessen konnte sich Linnemann nun als Opfer der bösen Medien darstellen, die Politiker nicht richtig zitieren. Und er konnte sich von der Aufregung, die sein Interview ausgelöst hat, distanzieren. Das ist vielleicht das ideale Ergebnis für ihn: Einerseits hat er sich und seine Partei mit markigen Worten beim Thema Integration profiliert. Und andererseits kann er denen, die das womöglich anstößig finden, sagen, dass das Anstößige daran nur eine Erfindung der Medien war. Ein Scharfmacher, der sich gegen das Scharfmachen verwahrt.
Carsten Linnemann ist in der breiten Öffentlichkeit vielleicht nicht sehr bekannt, aber er ist ein erfahrener Politiker. Vielleicht hat er sogar genau darauf spekuliert, dass seine Worte so aufgenommen und zugespitzt würden - wenn nicht von dpa, dann von jemand anderem. Aber dass das alles Kalkül war - das ist natürlich auch nur eine unbewiesene Unterstellung, um nicht zu sagen: ein Gerücht.