„Verehrte An- und Abwesende!“ ... so beginnt Albert Einstein seine Rede zur 7. Deutschen Funkausstellung am 22. August 1930.
[1] Diese Begrüßung der Abwesenden ist legendär, weil sie das Radio aufruft als Medium, das alle möglichen Leute irgendwo in der Welt in einem Raum versammeln kann, die für einen Moment auf derselben Frequenz sind. Für Einstein ist hier Mediendifferenz entscheidend. Anders als der, wie er meint, „verzerrende Spiegel der Tagespresse“ zeige der „Rundfunk [die Völker] einander in lebendigster Form und in der Hauptsache von ihrer liebenswürdigsten Seite.“ Und er fügt hinzu: „[Der Rundfunk] wird so dazu beitragen, das Gefühl gegenseitiger Fremdheit auszutilgen, das so leicht in Misstrauen und Feindseligkeit umschlägt.“ Einstein, eigentlich bestellt, zu Vertretern der Phono-Industrie zu sprechen, bezieht durch das Radio die unbekannten Empfänger, die eben keinen Zutritt zu den Schaltstellen der Medien haben, in den akustischen Raum mit ein. Für alle Anwesenden überraschend ruft er mithilfe des Radios ein virtuelles und unberechenbares Kollektiv jenseits des konkreten Raums der Feierlichkeiten auf. Einsteins Radio-Rede selbst realisiert damit einen akustischen Raum zufälliger Begegnungen, und zwar wie er betont, jenseits von Nationen- und Klassengrenzen. „Verehrte Abwesende!“ Das war Macht und Magie des Radios im Sommer 1930. Gegenwärtig dürfte es schwierig werden, im Radio Abwesende zu adressieren. Ein kollektiver akustischer Raum von Anwesenden
und Abwesenden verschwindet gerade, quasi vor unseren Ohren. Gegenwärtiges Radiohören findet auf Hunderten von Einzel- und Privatkanälen, auf digitalen Röhren und Tubes im Internet statt, auf Kanälen für Dich und für mich,
Youtubes und
iphones. Radiohören wird wieder zur singulären Angelegenheit — so wie in der Frühzeit des Radios, bevor, etwa zur Zeit der Rede Einsteins, Lautsprecher die alten, mit dem Apparat verkabelten Kopfhörer ablösten und damit kollektives Hören überhaupt erst ermöglichten. Unter Bedingungen des Internets verschwinden Massenmedien, die aus einer Zentrale senden, Medien, die aufgrund ihrer Vorrichtungen Massen bildeten. Stattdessen entstehen vielfältige Netzwerke, auf denen Sendungen als Daten zirkulieren und beziehbar sind, darunter
auch Akustisches. Das hat offenkundige Vorzüge: Jeder und jede kann auf diese Weise hören, was er (oder sie) möchte, kann selbst entscheiden, zu welchen Zeiten, wie lange, wie oft. Der rigide Zeitplan des alten Radios, der bestimmte Zielgruppen und Interessen zu bedienen hatte — von der Morgenandacht und den Verkehrs- und Sportnachrichten zum Kulturjournal — dieser rigide Zeitplan ist nicht mehr nötig im Radio der digitalen Gleichzeitigkeiten. Radiogewohnheiten strukturieren nicht länger den Alltag der Hörer — sei es als Raster der Wahrnehmung oder als Anästhetikum gegen Meldungen von Krisen und Katastrophen. Viele Sendungen stehen gespeichert zur Verfügung. Das Radio ist nicht länger nur Übertragungsmedium sondern wird Archiv und unterscheidet sich kaum von privaten Platten- und Hörspielsammlungen. Sparten differenzieren sich aus. Freunde der Jazzmusik müssen nicht auf die Mitternacht warten, Börseninteressierte können jederzeit abrufen, was sie wissen müssen. Die im Digitalen unkomplizierte Erkundung der Hörgewohnheiten, die Nutzer als statistische Spuren hinterlassen, helfen den Radiomachern und Redakteurinnen, präziser auf die Interessen ihrer Hörerinnen und Hörer einzugehen. In solcher Feedbackschleife programmiert sich das Programm schließlich selbst. Die ausdifferenzierten Spartensender können sich zudem Zeit lassen, ausführliche Berichte zu spezifischen Themen im Detail und in voller Länge auszubreiten. In ihrer individualisierten Zeitstruktur bilden unabhängige und lokale Sender eigene Gemeinschaften. Radiomachen, Senden und Hören wird als Community-Building verstanden, eine Kommunikation unter Gleichgesinnten. Das aber erweist sich zugleich als Problem: Die individuelle Ausdifferenzierung im digital organisierten Radio produziert vor allem Konsens. Globalisierungsgegner, Börsenspezialisten und Klangkünstler haben ihre eigenen Sender und werden mit Anderem - zumindest im Radio - nicht konfrontiert. Die Möglichkeit eines unberechenbaren „dritten Raums“, in dem Abwesende als Fremde und Andere unerwartet und überraschend auftauchen können, der Raum unvorhergesehener Begegnungen und unerwarteter Übertragungen verschwindet. Einsteins Ruf ins Blaue des Radioraums ist unter den Bedingungen digitaler Übertragung und im Hinblick auf die Möglichkeiten eines gezielten Zugriffs auf Inhalte des Radios nicht mehr sinnvoll. Zwar ist der Zugriff auf Radiomaterial und -archive noch ziemlich strikt geregelt und einigermaßen exklusiv, prinzipiell aber ist, insofern alles gestreamt werden könnte, ist das zeitlich lineare Senden nicht mehr nötig. In der Struktur digitaler Netzwerke und ihrer akustischen Bestände verschwindet damit genau der unbestimmte Raum eines Empfangs, von dem Begegnungen mit Unbekannten zu erwarten wären. Symptomatisch dafür ist, dass digital gesteuerte Radiogeräte auch kein Rauschen mehr zwischen den Stationen kennen, kein Geräusch von Kanal und Frequenzbändern, sondern nur noch die mathematisch präzise Adressierungen des Signals. Albert Einsteins Radiorede war natürlich 1930 bereits unrealistisch. Der Rundfunk, den er als Mittel zur „Völkerverständigung“ aufruft, war nach dem Ersten Weltkrieg überall in Europa staatlichen Monopolen unterstellt. Einen durchlässigen Raum der Verständigung gab es für das Radio, wie Bertolt Brecht betonte, zwar technisch, als Funk in alle Richtungen, insofern jeder analoge Radioapparat prinzipiell sowohl Empfänger als auch Sender war. Juristische und administrative Vorkehrungen jedoch hatten das im Funken noch mögliche wilde Kommunizieren auf Radiowellen gestoppt, um stattdessen das Radio als zentralverwaltete und gesteuerte Sendepraxis zu etablieren. Damit war erst der nationale und für Deutschland anschließend der nationalsozialistische Einsatz des Radios sichergestellt. Ab 1933 wurde zumindest in Deutschland der im Prinzip durchlässige Raum des Radios national dicht gemacht. Das Radio als heterogener Raum, und als Raum des Dissenses, in dem, wie Einstein gehofft hatte, „das Gefühl gegenseitiger Fremdheit auszutilgen“ wäre, gab es nicht mehr. Die Funktion von Piratensendern, das Hören von sogenannten
Feindsendern unter Lebensgefahr war die einzige Form, einen anderen akustischen Raum als realisiertes Prinzip eines oppositionellen Kollektivs wahrzunehmen. Das gilt für oppositionelle Deutsche, die im Dritten Reich BBC hörten ebenso wie in den sechziger Jahren für linke Griechinnen und Griechen, die ausgerechnet die Deutsche Welle hörten, wie Jannis Varoufakis aus seiner Familie berichtet, oder freie Radios, das berühmte Radio Freedom des ANC. Die Legitimation von radiophonen Gegenöffentlichkeiten geht auf diese Zeit zurück. Ein Radio des Dissenses unterscheidet sich jedoch vom Konzept der Gegenöffentlichkeit, insofern es die von Einstein aufgerufene Begegnung mit den Abwesenden als Erfahrung einer Alterität provoziert, einer prinzipiellen Andersheit, die das eigene Denken herausfordert. Ein solcher Raum des Dissenses ist in der Ausdifferenzierung des Sendeprogramms in Themen und Sendeschienen allerdings nicht zu haben. Ein öffentliches Reden im Radio, das dem Konsens der Spartenradios etwas entgegensetzen wollte, müsste auf die Begegnung mit dem Unerwarteten, dem Fremden, mit unerhörten Klängen und den Stimmen der Abwesenden setzen. Um die für das Radio so charakteristische Verbindung von Abwesenden, Einzelnen, von Intimität und Öffentlichkeit herzustellen, wäre vor allem jene Ordnung aufzulösen, die Wirklichkeit in Sparten unterteilt: in Nachrichten, Börse, Sport und Kultur. Um die Anwesenheit von Stimmen von Anderen, Fremden, Unbekannten als Nähe, dank der Mikrophone sogar als Intimität zu vernehmen, müsste lineares Radio komplementär zu den verfügbaren Sparten riskieren, unberechenbar zu werden, Nachrichten zu senden, wenn keiner sie erwartet, Klänge, die unbekannt sind, Stimmen, die den Kanal freilegen und auf andere Räume verweisen. Nur so könnten wir überrascht werden, nicht nur von unerwarteten Kontexten, sondern von Konflikten, von Ungereimtheiten und Botschaften, die nicht in der Ästhetik des Sensationellen und Spektakulären aufgefangen wären. In einer Sendestruktur, die die Zumutung der Wirklichkeit nicht gegen die Alltäglichkeit der Katastrophenmeldung abdichtet, wäre Dissens die Grundlage für Einsteins Radio. Die persische Dichterin Forugh Farrochzād hat in ihrem Gedicht „Eroberung des Gartens“ eine Erfahrung beschrieben, die dem Radio des Dissenses sehr nahe kommt, weil darin das Kollektiv, die Abwesenden, die Einzelnen und die Intimität verbunden sind: Jeder weiss es; Jeder weiss, dass Du und ich Durch den verborgenen Riss in der Wand geschaut Und den Garten gesehen haben.
[2] [1] Vgl. Albert Einstein, Verehrte An- und Abwesende! Originaltonaufnahmen 1921-1951. Supposé Köln 2003.
[2] Forrugh Farrokzhad, „Conquest Of The Garden“,translated by Michael Hillmann, vgl.
http://www.forughfarrokhzad.org/selectedworks/selectedworks4.php (meine Übersetzung ins Deutsche.)