„Allerdings veranlaßt der Rundfunk die Hörer nicht nur, sich auf Rede und Musik zu konzentrieren, sondern er läßt auch umgekehrt ihre Gedanken ins Weite schweifen.“ (Rudolf Arnheim)
Wenn an dieser Stelle der Versuch unternommen wird, das aktuelle Medium selbst und seine programmlichen Möglichkeiten zu reflektieren, so ist die Rede von "Radio" in der Medienkonvergenz, mit der die klassische Unterscheidung zwischen Individual- und Massenkommunikation ihre Trennlinien verloren hat. Auch sei gleich noch mit einer pragmatischen Wischbewegung das Thema Ausspielwege erledigt: ob linear oder nicht-linear, ob live oder in Form fragmentierter Programme, die Radio- bzw. Hörfunkprogramme und Audio-Angebote überhaupt werden sich über alle zur Verfügung stehenden Ausspielwege verbreiten.
Bei der Hinwendung zu den programmlichen Fragen und der Weite der Themen, die angesprochen werden sollen, muss aber konstatiert werden, dass auch hier eine absolute Unterscheidbarkeit, nämlich die zwischen privaten und öffentlich-rechtlichen Angeboten, längst nicht mehr überall gegeben ist. Es ist müßig sich mit der Frage aufzuhalten, ob mit der Einführung des dualen Rundfunksystems in Deutschland 1984 den öffentlich-rechtlichen Anstalten tatsächlich mehr oder weniger alternativlos der direkte Wettbewerb mit den Privaten aufgezwungen worden ist. Jedenfalls haben sich im Verlauf mehrerer Jahrzehnte die beteiligten Medienorganisationen und ihre Programme in einem andauernden Wettbewerb und Konkurrenzkampf profiliert und darüber auch definiert.
Der Sprung in die unmittelbare Gegenwart offenbart völlig andere Szenarien - schlagwortartig verkürzt die einer mediatisierten Gesellschaft vor dem Hintergrund sich rasant entfaltender Entwicklungen der Digitalisierung, der Globalisierung, des "verwilderten Finanzkapitalismus" (Jürgen Habermas), der weltweit agierenden Medienkonzerne, der sozialen Medien und eines neuen Autoritarismus. Den als fossil etikettierten, aber nach wie vor auf solidem juristischen Fundament ruhenden öffentlich-rechtlichen Anstalten stehen globale Player gegenüber, in deren Schatten sie nach wie vor auftragsgemäß zur Grundversorgung, das heißt zu einer umfassenden Berichterstattung und zur Verbreitung eines vielfältigen Programmangebots für die gesamte Gesellschaft verpflichtet sind. Sie befinden sich in einer asymmetrischen Konkurrenz gegenüber den großen Medienkonzernen; sie leiden an Akzeptanzverlust und erreichen jüngere, mit anderen Medienangeboten sozialisierte Publikumsgruppen nur ungenügend. Sie sind massiv von den nur bedingt absehbaren, hoch dynamischen und in ihrer Tragweite enormen Veränderungsprozessen der Digitalisierung erfasst.
Der Zustand des öffentlich-rechtlichen Systems spiegelt in vielerlei Hinsicht eine sich verändernde Gesellschaft wider. Es ist eine atomisierte beziehungsweise "anonyme Gesellschaft" (Hans G Helms), eine Gesellschaft, die den Märkten dient und deren Mitglieder in starker individueller Konkurrenz stehen. Eine solchermaßen individualisierte Gesellschaft erweist sich vor allem aber als Beute der Märkte, in denen ein prosperierendes Segment - das mit personalisierten Angeboten der Unterhaltungs- und Kommunikationsindustrie - eine immer stärkere Rolle spielt. Am Rande dieses Marktes, der den Bürger oder den Einzelnen als gläsernen Kunden mit Potenzial zu dauerhafter Markenbindung und Produktabhängigkeit wahrnimmt und anfixt, tummeln sich inzwischen auch die öffentlich-rechtlichen Sender mit ihren eigenen personalisierten Angeboten, darunter auch denen eines personalisierten Radios.
Dass fragmentierte Programme, kostenfreie Podcasts, Streaming-Angebote des kulturellen und vor allem des künstlerischen Radios in den vergangenen Jahren einen außerordentlich hohen Zuspruch erfahren sollten, dies war ein nicht erwarteter Erfolg. Das Hörspiel und die Radiokunst als Klickbringer zu goutieren, erscheint symptomatisch und zeugt von einer Betrachtungsweise, die vor allem produktbezogene und quantitative Erfolgskritierien an künstlerische Denkprozesse und Realisationsergebnisse anlegt. Das Stichwort "produktbezogen" verweist freilich auf einen terminologischen Verdrängungsprozess, der vom sich wandelnden, zunehmend ökonomisierten Selbstverständnis der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten zeugt, ohne dass sich die juristischen Grundlagen und Voraussetzungen im Wesentlichen geändert hätten.
Aus der Anstalt wurde das Medienunternehmen, aus der Sendung das Produkt, aus dem Zuhörer oder Zuschauer der Kunde, aus Redaktionen wurden Zulieferer. Strateg*innen begegnen Redakteur*innen und sprechen diese als Mitglieder "der Linie" an. Die Anstalt als Medienunternehmen, und dieses wiederum als Linienorganisation? Im "Produkt"-Kontext erscheint der zunehmend betonte Begriff der Dienstleistung in einer anderen Bedeutung als im alten öffentlich-rechtlichen "Auftrags"-Kontext. Die terminologische Selbstkommerzialisierung mag einerseits befremdlich anmuten, andererseits könnte sie eine Sicht auf die Sendeanstalten als zeitgemäß und -konform sich wandelnde Organisationen im Spiegel der atomisierten beziehungsweise anonymen Gesellschaft bestätigen, die von der Logik der Märkte und des allgegenwärtigen Konkurrenzkampfes dominiert wird.
Es bestünde wie gesagt von den rechtlichen Grundlagen her keine Notwendigkeit, das Organisationsverständnis im Sprachgebrauch ökonomistisch zu modifizieren. Es wäre theoretisch durchaus legitim zu hinterfragen, ob die Ausgestaltung des öffentlich-rechtlichen Auftrags und das Prinzip der Programmautonomie nicht ebenso gut oder gar besser mit einer weniger marktorientierten Terminologie dargestellt werden könnten. Doch scheinen die skizzierten gesellschaftlichen Entwicklungen so weit fortgeschritten, dass im Bewusstsein der Handlungsträger eine explizit marktdistanzierte Positionierung der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten nicht als elementar erachtet wird.
Um von Zustandsbeschreibungen und "weiteren Aussichten" auf das Radio und auf mögliche Erwartungen zurückzukommen, einige Überlegungen zu Handlungsoptionen gegen erstarrte Denkmodelle: Sie gehen davon aus, dass die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten - jetzt: Medienunternehmen - sich im Dienste der pluralistischen Gesellschaft mit einem "Sowohl-als-auch"-Selbstverständnis positionieren könnten, das zwischen alten Auftrags-Werten und neuer Markt-Logik changiert und pendelt, wenngleich viele Indizien darauf hindeuten, dass solche Handlungsoptionen realpolitisch bis auf Weiteres chancenlos sein dürften. Doch birgt das Bewusstsein einer Zeit stets auch Möglichkeiten der Veränderung.
Die erfolgreichen nicht-linearen "Produkte" des Radios, die fragmentierten Wissens-, Kultur- und Unterhaltungs-Programme, könnten Raum schaffen für neue Live-Radiokonzeptionen, die aktuellen Bedürfnissen Rechnung tragen würden: Dieses Live-Radio würde sich als Diskursmedium mit starken partizipativen Komponenten anbieten. Es könnte neue Formate erproben jenseits von repräsentativen Diskussionen alten Stils, die nicht immer Erkenntnisgewinn bringen und nur selten Überraschungsmomente implizieren. Die Zeit wäre reif für diskursive Experimente, die nur in einem Mindestmaß arrangiert werden und nicht unbedingt der Moderation bedürfen. Vielmehr sollen interessierte Individuen und Gruppen themenbezogen animiert werden, das Radio als Programmgestalter*innen punktuell in Besitz zu nehmen, um es - übrigens auch emotional - als "eigenes" Medium zu begreifen beziehungsweise als Medium, zu dem grundsätzlich offener Zugang besteht.
Die praktizierte Rückkopplung beziehungsweise Feedback-Optionen für Hörer via Call-in-Sendungen und die gesteuerte, überholten Konventionen der Kontrolle unterworfene Vernetzung einzelner Programmformate mit sozialen Medien wird wohl nicht ausreichen für einen Rundfunk, der perspektivisch von Relevanz sein soll. Es muss hinzugefügt werden, dass der Rundfunk in jüngster Zeit durchaus entsprechende Experimentierfelder eröffnet hat. Das klassische Massenmedium Radio müsste aber künftig neben der Grundversorgung an Programmangeboten das individuelle Bedürfnis eines Anspruchs auf Öffentlichkeit zu erfüllen versuchen, das die sozialen Medien bedienen und verstärkt haben. Grundsätzlich, technisch, rechtlich und organisatorisch wäre es dazu in der Lage.
Zuvor aber ginge es in einem ersten Schritt um die Ingangsetzung einer breiten internen Diskussion mit den Mitarbeiter*innen der öffentlich-rechtlichen Sender über den gesetzlichen und gesellschaftlichen Auftrag und Perspektiven seiner Ausgestaltung. Ein derartiger Ansatz würde voraussetzen, dass sich das öffentlich-rechtliche Radio wieder stärker der eigenen inneren Medienfreiheit erinnerte. Es würde den Dienstleistungsbegriff mit einer anderen Auffassung ausstatten: Es ginge nicht so sehr darum Produkte für eine Hörerschaft herzustellen, sondern vorrangig darum, die Idee und Praxis des Pluralismus via Massen- und Individualkommunikation zu beleben, ohne sich selbst zu einer über allem schwebenden Instanz zu erheben.
Eingedenk existenter Abkopplungstendenzen größerer gesellschaftlicher Gruppen, die sich - wie diffus, vielschichtig, schwer fassbar auch immer - mit dem "System" nicht mehr identifizieren können oder sich ausgegrenzt fühlen, mögen diese Überlegungen vielleicht nicht von vornherein als idealistische Schwärmerei betrachtet werden.
Der Ruck, der durch das öffentlich-rechtliche Radio gehen müsste, könnte auch auf einer basalen Ebene in Gang kommen und mehr von einer Rückbesinnung auf klassische Auftragsgedanken ausgehen. Mit einfachen Worten gesagt soll dieser Rundfunk in einem mustergültigen demokratischen Prozess Programme entwickeln und veröffentlichen. Er soll damit zur Meinungsbildung in der Gesellschaft beitragen und Orientierungshilfe leisten. Es hat den Anschein, als ob sich in der jüngeren Entwicklung die redaktionelle Praxis generell von diesen Prinzipien mehr und mehr entfernen würde. Produktsteuerung und Sparzwang treten dabei in Gestalt siamesischer Zwillinge auf. Ein publizistisches Selbstverständnis, das von ursprünglichen Auftragsideen ausgeht, scheint allmählich im Hintergrund zu verschwinden und dem Vergessen anheimzufallen. Es bedürfte langfristiger emanzipatorischer Anstrengungen, entsprechende Initiativen zu entwickeln und zu etablieren, um die innere Medienfreiheit wieder ins Bewusstsein zu rücken und pluralismusabträgliche Zentralisierungstendenzen zu bremsen.
Das Stichwort "Orientierung" verdient eine eigene Anmerkung: es geht zum einen um gesellschaftliche, politische und kulturelle Werte, zum anderen um Produkte. Einer allzu selbstgerechten Betrachtungsweise, der Qualitätsjournalismus könne der Gesellschaft komplexe Entwicklungen und Zusammenhänge der Gegenwart ohnehin schlüssig und formatgerecht vermitteln, müssten reflexive und medienreflexive Sichtweisen entgegengesetzt werden: Luhmanns Satz "Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien" mag zutreffen, über das Verhältnis von Wissen und Nicht-Wissen beziehungsweise Wissen und Nicht-Verstehen besagt er nichts.
Ein realer Vermittlungsanspruch, Orientierung geben zu können, setzt Kommunikationsprozesse - und zwar möglichst öffentliche - der Selbstorientierung und Selbstvergegenwärtigung voraus. Dass komplexe Recherchen und trickreich verschleierte Methoden etwa der Finanzwelt und der Super-Reichen darstellbar sind, dafür kann das aktuelle Projekt "Paradise Papers" des internationalen Netzwerks investigativer Journalisten ein herausragendes positives Beispiel geben.
An Themen zur redaktionellen Selbstüberprüfung wäre kein Mangel: konterkariert das Marketinginstrument der Medienpartnerschaft die Unabhängigkeit kulturkritischer Berichterstattung? Beeinflusst sie Programminhalte? Inwieweit kann der Musikjournalismus die Fülle innovativer Formen und Werke der diversen Sparten und Subsparten wahrnehmen, präsentieren und begleiten? Inwieweit ist musikalische Programmfreiheit überhaupt noch existent beziehungsweise gewährleistet? Wie kann Meinungsvielfalt erhöht und Programmpluralismus verstärkt werden? Journalistischer Nachwuchs: Welche Initiativen können ergriffen werden, um jüngeren Generationen zusätzliche Möglichkeiten der Programmgestaltung zu eröffnen, welche professionellen Perspektiven können diesen Generationen eröffnet werden, die zu einer Beschäftigung oder Mitarbeit in den öffentlich-rechtlichen Organisationen führen können? Wer entscheidet über freie Mitarbeit? Wie können Prinzipien der inneren Medienfreiheit mit personalbezogenen Sparzwängen in Einklang gebracht werden? Und so weiter...
An diesem Punkt des Versuchs einer Darstellung weiterer Aussichten angelangt, mehren sich die Zweifel, ob es überhaupt Sinn macht, zusätzliche Überlegungen in dieser Richtung auszuführen. Die Einsicht, an den derzeit gegebenen gesellschaftlichen Entwicklungen, an realpolitischen Verhältnissen, an struktureller Macht zu scheitern, wird insofern angenommen - im Bewusstsein einer Momentaufnahme.
Das lineare Radio war in anderen Zeiten ein Medium der Überraschung. Jetzt erzeugt es fast ausschließlich Berechenbarkeit, kurzweilige Langeweile. Die Rezipienten müssen vor Irritationen bewahrt werden. Im herrschenden Sprachgebrauch formuliert: die Kunden dürfen nicht verschreckt werden. Das Online-Radio als personalisiertes Radio muss versuchen, sich gegen Youtube, Spotify und Netflix zu behaupten. PR-Fachleute setzen dagegen weiterhin auf das lineare Medium Radio, weil es fast alle Haushalte erreicht und Radiowerbung unterschwellig wahrgenommen wird. Als Vorzüge gelten die lokale, regionale und nationale Präsenz. Es wird als ideales Bindeglied zum Internet betrachtet, und das Preis-Leistungsverhältnis geht aus Sicht der Werbeindustrie in Ordnung.
Das Radio könnte künstlerischen Formen einen großen Stellenwert einräumen, aber das Gegenteil ist der Fall: Zu verzeichnen ist Schwund. Der Rundfunk leidet unter Gedächtnisverlust, ist dabei, seine eigenen Qualitäten zu vergessen. In Pionierzeiten sind Kunst- und Technologieexperiment häufig deckungsgleich, nicht zu unterscheiden; es spielt keine Rolle, ob es sich um Kunst handelt. Auf die Gegenwart scheint dieses Pionierbewusstsein nicht zuzutreffen, obwohl die Umbrüche des Digitalen einen kaum vorstellbaren gesellschaftlichen Wandel in Bewegung gesetzt haben.
Das Radio war immer ein Medium utopischer Ideen, Fantasien und Projektionen. Von Funkamateuren erfunden, von Ideen russischer Futuristen, aber auch von Brecht, Döblin und vielen anderen inspiriert, von Flesch, Hardt und Braun in experimentellen Sendungen ausgetestet, war es wohl das wichtigste Medium des 20. Jahrhunderts, des Zeitalters der Massen, der Massenbewegungen und der Massenvernichtung. Das Funkradio ist tot, doch die Kunst des Hörens, die Audioangebote diverser Medien stehen für die Faszination am Auditiven und für die breiten Bedürfnisse, in Hörwelten einzutauchen. Die Emphase vieler Initiatoren experimenteller Radios und Webradios erinnert an den Geist der Bastler und Funkamateure.
Der eingangs zitierte Publizist, Medienwissenschaftler und Kunstpädagoge Rudolf Arnheim berichtet davon, dass zu Beginn der 1930er Jahre Zeitgenossen das baldige Ende des Radios prognostizierten, nachdem das elektronische Fernsehen erfunden worden war. Doch sollte das Radio nur wenig später eine Karriere als wirkmächtiges Instrument totalitärer Herrschaft erleben, an deren Ende einer der größten Augenblicke in der Geschichte des Rundfunks überhaupt stand, als am 9. Mai 1945 um 20.03 Uhr im Reichssender Flensburg nach dem Verlesen des letzten Wehrmachtsberichts eine Funkstille von drei Minuten eintrat. Diese Funkstille war notwendig. Heute geht es um präzise Auftragserfüllung.