"Die Romantik der Linearität lehne ich ab"

von Geert Lovink

Wolfram Wessels: Das Internet scheint alle Aufmerksamkeit der Medienschaffenden auf sich zu ziehen. Warum interessiert sich keiner mehr für das lineare Radio-Programm?

Geert Lovink: Den ‘Untergang’ des Radios als statistische Wahrheit gibt’s schon über 50 Jahre. Radio ist marginal geworden, kann sich aber trotz allem relativ gut behaupten. Damals war’s Fernsehen, jetzt ist es Internet, die Medienlandschaft zersplittert und das ist grundsätzlich jenseits von Gut und Böse. Ich gehe immer davon aus, dass es hier um Autoritätsabbau geht. Machtgefüge zerfallen und die Macht selber verschwindet, Schritt für Schritt. Das Problem ist natürlich das Aufkommen von neuen Monopolen - wie derzeit Google und Facebook …

WW.: ...die natürlich eine neue Macht darstellen. Wie sieht die aus, wenn man sie mit der alten des Radios vergleicht?

GL: Radio als solches bildet keine Macht. Als technische Stimme einer Vaterfigur war das in den 30er Jahren vielleicht noch möglich, Jetzt ist Radio entweder Teil des häuslichen Ambientes (in der Küche, bei der Hausarbeit, als Freund im Hintergrund), oder als Begleiter unterwegs, im Auto, also dort wo Interaktivität nicht möglich (oder erlaubt) ist. Der globale Umsatz der zwei größten Werbefirmen der Welt, Google und Facebook, ist unfassbar.  Radio ist da schlichtweg marginal und hat auch tatsächlich in den letzten Jahrzehnten (soviel ich weiß) nirgends eine entscheidende info-politische Rolle gespielt, was nicht heißt, dass es als minoritärer Kanal immer mal hier und da für Individuen und bestimmte Gruppen in der Gesellschaft eine wichtige Rolle spielt.

WW: Und welche Rolle spielt das Radio als Teil von Öffentlichkeit?

GL: Die Radiofrage als solches existiert nicht. Wir können uns nur fragen, ob es auch in der Zukunft eine politische Aufgabe ist, Audioinhalte für die Öffentlichkeit herstellen zu lassen. Ich bin da skeptisch, weil es nirgendwo Versuche gibt, die öffentlichen Rundfunkmodelle zu revolutionieren. Alle schlafen, wie vor zwanzig Jahren. Es tut sich nichts, bis durch einmalige und nichtvorsehbare historische Bedingungen auf einmal alles verschwindet. Wir reden jetzt nicht übers Radio, aber über die Staatsfinanzierung und Kontrolle. Wir reden hier nicht über Reformen sondern über eine Revolution. Und wie wir wissen, passieren die immer wieder mal (das letzte mal 1989 in Deutschland, gar nicht so lange her…).

WW: Von wem sollte diese Revolution denn ausgehen?

GL: Revolutionen werden nicht initiiert. Das sind Konstellationen von Ereignissen die konvertieren. Diese Kräfte entstehen schon Jahrzehnte vorher. Ich bin eben kein Komplettdenker und glaube auch nicht an die Partei und ihre Vorreiterrolle. Ich bin also ein „old school“-Sponti, der einen besonderen Wert auf Organisation von unten legt.

WW: Neue Medien lösen ja nie die alten ganz ab, aber können sie verändern. Wenn das auch für das Verhältnis von Internet und analogem, linearem  Radio gilt, wie müsste sich die Rolle des terrestrisch verbreiteten Radioprogramms (UKW/MW/DAB/DAB+/) verändern? Hat sie sich schon verändert?

GL: Im Bereich Radio hat das Digitale das Analoge abgelöst, und zwar relativ schnell, innerhalb von 10 bis 15 Jahren. Klar ist FM nicht verschwunden, aber Produktion  und Verbreitung haben sich schon revolutioniert. UKW ist da die Ausnahme, das ist schon interessant, und kann noch lange so weiter gehen. Aber macht es wirklich Sinn, Radio als Medium auf UKW zu begrenzen? Ich glaube nicht.

WW: Warum ist UKW eine Ausnahme und für wen ist es heute noch interessant?

GL: UKW hat immer noch Hörer, im Vergleich zu Mittel- und Kurzwelle. Es ist wie gesagt nur interessant für diejenigen, die sich konzentrieren sollten auf ihre Arbeit und nicht in der Lage sind gleichzeitig zu klicken, streichen und scrollen.

WW: Das Internet bot auch den alternativen Medien schier unbegrenzte neue Möglichkeiten. Inzwischen scheint es, daß sie in der Fülle der Angebote untergehen.

GL: Das stimmt. Aber das ist von der post-digitalen ‘underground’ Perspektive erst mal nicht ganz so schlecht. Klar, es gab einen ‘kurzen Sommer des Internets’. Das war grob gesagt 1995-1997. Mit dem Aufkommen von dotcoms, start-ups und Google, war’s dann vorbei. Das lässt sich auch gut aus dem Wachstum der gespeicherten Daten erklären. Die Sichtbarkeit nimmt ab. Derzeit ist es nur noch eine apriori Frage der filter bubbles. Entweder sind die Datenverweise drin, oder nicht. Suchbarkeit bedeutet eigentlich gar nichts mehr.

WW: Welche Konsequenzen hat das?

GL: Diese neue Lage, die sich etwa vor zehn Jahren etabliert hat, führt zu Datenrelativismus. Was man konsumiert, und produziert, scheint egal. Es wird zwar alles gespeichert, aber wer kennt sich da noch aus, außer der Computer...

WW: Sind Spartenkanäle für Einzelinteressen eine Alternative?

GL: Die gibt’s im Print, Radio und Fernsehen schon seit vielen Jahrzehnten, 40-50 Jahre bestimmt. Wir müssen uns erneut fragen,  was Kanäle im Internetzeitalter überhaupt sind. YouTube zum Beispiel sieht nicht gut aus. Sparten sind an sich nicht schlecht. Das Problem derzeit liegt ja nicht in der Fragmentierung, sondern der - erneuten - Konzentration, die alte Frage der Monopole… Der Einzelne und seine Interessen bleiben nach wie vor die Alternative. Das Generelle sorgt nicht für die Lösung aller Probleme, sondern führt immer wieder zu Erziehungsgewalt. Wir wissen immer, was besser ist für andere. Das zentrale Problem derzeit ist,  wie wir das dezentrale Netz wieder einführen.

WW: Ist das Internet dem traditionellen linearen Radio in Hinsicht auf Partizipation und Kommunikation nicht überlegen?

GL: Ja, das stimmt. Ob das aber an der Partizipation liegt, müssten wir hinterfragen. Ich halte den Zeitfaktor für wichtiger, also die Nachrichten zu erfahren wie es einem passt. Die Onlinenachrichten bleiben linear. 

WW: Das Internet bietet bereits zahlreiche Möglichkeiten von personalisiertem Radio, das letztlich nonlineare Inhalte zu einem linearen Radio-„Programm“ organisiert. Was haben Webradio und Rund-Funk miteinander zu tun? Gibt es eher Synergien oder mehr Konkurrenz?

GL: Klar gibt es Konkurrenz. Die Hörerschaft des klassischen Radios bleibt aber stabil, und in dem Sinne ist der große Kampf vorbei. Jetzt geht es darum,  die Synergien zu entwerfen und das Radioerlebnis zu demokratisieren.

WW: Was ist da denkbar? Es werden ja z.B. schon lange die Inhalte des linearen Radioprogramms zur nonlinearen Nutzung im Netz angeboten, einschließlich Bilder, Filmen, Links und Kommentarmöglichkeiten.

GL: Also, weiter so! Habe Geduld, das Publikum wird kommen. Hier in Holland erlebt podcasting gerade seinen Durchbruch. Das ist spannend und zeigt was passieren kann wenn endlich, nach Jahrzehnten, Hundertausende dir zuhören - und zurückkehren.

WW: Wie stellt sich heute die Machtfrage bezüglich der öffentlichen Meinungsbildung: wer bestimmt über Medieninhalte im Internet und wer im traditionellen Radio?

GL: Was sind Medieninhalte im Internet? Gibt es ‘Medien’ innerhalb eines Netzes? Ich weiß, Du bist weder blöde noch uninformiert aber denk doch mal nach. Du meinst wahrscheinlich Nachrichtenangebote von ‘alten’ Medien wie Bild, Spiegel und Focus im Internet… Im traditionellen Radio wäre es das öffentlich-rechtliche Machtgefüge. Wer das Sagen im Internet hat, ist eine ganz andere Frage und hat erst einmal nichts mit Nachrichten zu tun. Wir wissen alle wer das sind… Google, Facebook, Amazon und so weiter.

WW: Aber bestimmt nicht der, der das Sagen hat, auch über die Inhalte, also auch die Verbreitung von Nachrichten (aber nicht nur die)?

GL: Es gibt eine neue Trennung von denjenigen die Nachrichten herstellen, und denen, die an deren interaktiver Rezeption Geld verdienen. Es ist lustig zu sehen, dass in Deutschland die großen Medienfirmen und Rundfunkanstalten sich darüber ärgern, trotzdem aber mitmachen (sie boykottieren ja Silicon Valley nicht, ganz im Gegenteil). Ihre Wut kommt nach Jahrzehnten erstaunlicher Arroganz ziemlich spät,  weil sie so lange die (potentielle) Macht der sozialen Medienfirmen verneint haben und sich schlichtweg verweigert haben, neue Modelle von öffentlich-rechtlichen Medien im digitalen Netzzeitalter zu entwickeln. Niemanden soll Mitleid mit Mainz haben. Selbst schuld, dikke bult, so heißt das auf Holländisch.

WW: Angesichts der Möglichkeit  einzelne Radioinhalte im Internet zeitsouverän nutzen zu können, wie müßte die Sendeabfolge, die Dramaturgie eines linearen Radioprogramms darauf reagieren?

GL: Man muss gar nicht darauf reagieren, sondern nur klug die Angebote anpassen und das junge Publikum zeitgemäß bedienen und nicht so belehrend an die Sache herangehen. Radio ist kein Opfer. Journalisten sollten rücksichtslos zurückschlagen und die neuen Geldquellen anbohren. „Hört auf zu heulen, es hat erst angefangen“, sagt der kluge Punkspruch der 80er.

WW: Aber was heißt „klug die Angebote anpassen“?  Betrifft das nicht auch die Platzierung der Angebote zu bestimmten Zeiten im Programm? Und dabei kann es doch nicht nur um das junge Publikum gehen. Der Großteil der Hörer vor allem des linearen Radios gehört zu den Älteren.

GL: Das junge Publikum ist durchaus entscheidend. Es ist offen für Musik, für Neues, und hat Zeit zum Hören. Stell dir vor, wenn Radio eine Neugeburt erlebt und sich entweder von Innen oder von Draußen revolutioniert? Warum nicht? Die grauen Radiopanzer werden in den nächsten Jahrzehnten zwar eine stabile Hörerschaft bilden, das Problem bleibt aber, dass auch ihre Haltung den linearen Medien gegenüber sich ändern wird.

WW: Muß das lineare Radio noch alle Inhalte bieten, von den Nachrichten über den Vortrag bis zu Musik-Magazinen und Konzert-Übertragungen? Oder sollte es eine Arbeitsteilung mit Internet-Angeboten geben?

GL: Das Radio soll aufhören bieder zu sein, die altmodische Idee, eine Autorität zu repräsentieren… weg damit. UKW oder Internet, darum geht‘s doch gar nicht. Alles dreht sich um Qualität, unzeitgemäße Fragen zu stellen, Unerhörtes herzustellen, das Audio dort einzubauen wo es Publikum gibt.

WW: Sind die Zeitzeichen zur vollen Stunde nicht längst ein Anachronismus, weil sie je nach Ausspielweg (UKW, DAB+, Internet, Satellit) zeitversetzt beim Hörer ankommen? – Welche Konsequenzen hat das für ein lineares Radioprogramm?

GL: Erst mal keine. Das Problem ist, dass immer weniger das Original anhören. Aber für wen ist das eigentlich ein Problem? Warum stehen die Zuhörer nicht hier im Zentrum? Die Digitalisierung ist längst abgeschlossen und das Gesamtbild ist ziemlich chaotisch. Es gibt keine partiellen Medien mehr. Du hast damit ein Problem, aber warum? Geht es um Jobs? Um Arbeitsplätze? Ich denke eher nicht, weil besonders wenige von uns bei den öffentlich-rechtlichen Anstalten arbeiten.

WW: Daß es keine partiellen Medien mehr gibt, scheint mir bislang noch eine Behauptung. Noch wird lineares Radio mehrheitlich über UKW gehört. Auch Radio-Künstler und -Aktivisten entdecken die Frequenzen neu. Und in DAB wird - zumindest in Deutschland - noch immer investiert.  Im Übrigen ist die Frage des Ausspielwegs sekundär, wenn es um die Linearität eines Radioprogramms geht. Ist es also egal wie verschiedene Sendungen aufeinander folgen und - im Fall von UKW z.B. zu welcher Zeit?

GL: Ja, die Medienlandschaft hat jetzt schon überall eine Datenbankstruktur, egal ob wir das so wahrnehmen. Die Romantik der Linearität lehne ich ab. Alles Regression. Das alles ist Gewohnheit, und lässt sich einfach umprogrammieren. Ein paar Monaten später und die meisten kennen es nicht mehr anders.

WW: Braucht es noch ein festes Programmschema?

GL: Durchaus ist das machbar. Überall gibt es Listen. Die ganze Welt ist eine Datenbank, fest oder nicht fest, das macht ja gar nichts aus. Auch das sogenannte spontane live Event ist wenige Augenblicke später eine MP3 Datei.

WW: Vielen Dank Geert Lovink

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