Dirk Baecker

Das Radio in der Gesellschaft

Welchen Unterschied macht das Medium Radio in der Gesellschaft? Dirk Baecker Zeppelin Universität Wer Radio hört, ich meine: bewusst hört, liest zumindest in diesem Moment kein Buch, keine Zeitung, schaut keinen Film, sieht nicht fern und surft auch nicht im Internet. Konzentrieren wir uns, falls Sie mir gerade zuhören, einmal ganz auf diesen Moment. Was verliere ich, wenn ich Radio höre? Und was gewinne ich? Es liegt auf der Hand, oder sollte ich besser sagen: es ist offenkundig, oder noch besser: die Spatzen pfeifen es von den Dächern – welches Bild ist dem Radio angemessen, wenn denn ein "Bild" überhaupt dem Radio angemessen sein kann? –, also gut: jeder weiß, dass das Radio mit dem Buch, der Zeitung, dem Film, dem Fernsehen und dem Internet in einer Medienkonkurrenz steht, in der es durch viele Nachteile belastet ist und in der nicht immer leicht herauszufinden ist, welche Vorteile für es sprechen. Worin besteht die Differenz des Radios, sind Medientheoretiker deswegen geneigt zu fragen? Was schließt das Radio ein? Und was schließt es aus? Im Vergleich mit dem Buch kann man die Stellen einer Rundfunksendung nur schwer neben die Stellen einer anderen Rundfunksendung legen, um genauer zu überprüfen, welche Meinung mit welchen Belegen die überzeugendere ist. Haben Sie schon einmal versucht, an einer Rundfunksendung philologisch kritisch zu arbeiten? Sie müssten sie aufnehmen und könnten anschließend, heutzutage im Live Stream auch bereits beim Hören, vor- und zurückspulen, um Stellen zu finden und zu prüfen. Das ist mühsam und spätestens, wenn sie eine zweite Rundfunksendung oder auch eine Arbeit in einem anderen Medium hinzuziehen, wird bereits das Protokoll der Stellen zu harter Arbeit, ganz zu schweigen vom Vergleich der Stellen. Dann die Zeitung. Haben Sie schon einmal versucht, während des Hörens einer Rundfunksendung das Ohr von einer Sendung zu einer anderen schweifen zu lassen, wie es der Blick auf einer Zeitungsseite mühelos tun kann? Die Zeitung mit ihren synchron präsenten Artikeln ist das Medium schlechthin einer vielfältig vernetzten und doch robust differenzierten modernen Gesellschaft. Dem kann das Radio mit raschen Schnitten oder überraschendem Innehalten etwas entgegensetzen, wird dadurch jedoch entweder hektisch oder langatmig, ohne auch nur den Hauch einer Chance zu haben, sich genau dem Rhythmus des Wechsels der Aufmerksamkeit zu fügen, über den ein individueller Zeitungsleser souverän und ohne es auch nur zu merken verfügt. Gegenüber Film und Fernsehen, hier scheint der Fall klar, kann das Radio nur verlieren. Wie sehr auch immer das innere Auge mit Bildern beschäftigt sein mag, die eine Rundfunksendung evoziert, das äußere Auge ruht auf den allzu bekannten eigenen vier Wänden oder dem allzu nervigen Verkehrsfluss der Straße vor und hinter dem Auto, in dem man sitzt. Während man in Film und Fernsehen ständig etwas zu sehen bekommt, was man sich genau so nicht vorgestellt hätte, hat man es im Radio mit einer radikal bilderlosen Welt zu tun, die Schönheit und Schrecken verspricht, mich aber damit allein lässt, sie mir auch vorzustellen. Schließlich das Internet. Haben Sie schon einmal versucht, ihr Rundfunkgerät an eine Tastatur anzuschließen und dann von Sendung zu Sendung zu surfen, in jeder Sendung einem Hyperlink nachzugehen, das sie in die Tiefe, an den Horizont oder in eine ganz andere Welt katapultiert? Haben Sie schon einmal versucht, mit einer Rundfunksendung multimedial zu arbeiten, indem Sie sich gleichzeitig Notizen machen, auf sozialen Plattformen einen Eintrag posten, passende und unpassende Bilder zum Thema suchen oder sich gar auf eine Datenbankrecherche einlassen? Ohne Frage weist das Medium Radio gegenüber diesen anderen Massenmedien gravierende Nachteile auf. Ohne Frage jedoch stutzt man fast in jedem einzelnen Fall, in dem man auf solche Nachteile stößt, schaut genauer hin und findet Vergleichbares auch im Radio. Selbstverständlich gibt es Rundfunkessays, die in der Lage sind, kritisch am Text zu arbeiten und dies auch vorzuführen, selbst wenn es dem Hörer schwer fallen wird, mit dem Bleistift in der Hand auch kritisch mitzuarbeiten. Selbstverständlich schafft es die Moderation einer Nachrichtensendung, Verbindungen zwischen verschiedenen Themen zu knüpfen oder auch deutlich zu machen, dass das eine wider Erwarten nichts mit dem anderen zu tun hat. Nicht umsonst konnte ich gerade formulieren, dass eine Rundfunksendung Bilder "evozieren" kann, das heißt durch die Arbeit mit der Stimme, lateinisch vox, vocis, Bilder hervorruft, lateinisch evocare. Und leidenschaftlichen Rundfunkhörern fiel es noch nie schwer, den Knopf für die Senderwahl so lange zu drehen, bis nationale und internationale Sender inklusive des Rauschens auf den ungenutzten oder nur schwach zu empfangenden Frequenzen ein wahrlich mehr als getreuen Eindruck vom Lärm, vom Fokus, von Stimmenvielfalt und Klangteppichen der Welt zu geben vermochten. Die Differenz zu den anderen Medien ist scharf, verwischt jedoch hier und da beim genaueren Hinsehen. Vermutlich muss man Ähnliches für die Innenseite der Differenz befürchten. Auch von den Vorteilen des Radios, wenn es denn welche gibt, wird es mehr oder minder gelungene Kopien in den anderen Medien geben. Aber was sind diese Vorteile? Worin unterscheidet sich das Radio positiv von allen anderen Medien? Kann man sagen, dass es das Radio erlaubt, uns ganz auf den Klang der Stimme zu konzentrieren? Tun wir das denn? Lenken uns die Themen der Rundfunksendungen, die evozierten Bilder von diesem Klang nicht viel zu sehr ab? Würden wir etwas verlieren, wenn das Radio sich darauf beschränkte, nur im reinen Medium der Akustik zu senden, der Musik? Nein, die Musik ist es nicht. Es ist die Kombination der Musik, der Themen und der Stimmen, die das Radio unter allen anderen Medien auszeichnet. Das Radio ist das Medium, das uns am Klang einer Stimme die Brüchigkeit und Festigkeit, den Trotz und die Lust, das Zögern und das Zupacken, das Mäandern und die Geradlinigkeit, die Empörung und die Neugier unseres Umgangs mit den Themen der Welt hörbar macht. Die Augen kann ich schließen, die Ohren nicht, hat bereits Georg Simmel festgestellt. Wir hören immer. Unser Gehör ist das Organ, mit dem wir die Welt daraufhin überprüfen, laufend überprüfen, ob es Anlass zur Sorge oder Anlass zum Feiern gibt, ob meine eigene Meinung eine Chance hat oder ich sie besser für mich behalte, ob der andere mir bereit ist zuzuhören oder jede Nachfrage ihn aus den Angeln heben würde. Ich höre, also sind wir, könnte man Descartes variieren. In diesem Sinne "hören" wir auch dann, wenn wir in einer Zeitung zwischen den Zeilen lesen, im Fernsehen die Mimik eines Politikers studieren und im Internet die Konjunkturen der Aufmerksamkeit verfolgen. Aber nur angesichts, nein: "angehör", des Radios weiß ich, dass ich höre, und beginne ich zu hören, wie ich höre. Das gilt insbesondere für den künstlerischen Umgang mit dem Radio in Hörspielen, aber es gilt auch für den alltäglichen Umgang mit dem Radio. Stellen Sie sich nur einen Moment lang vor, sie würden Ihr Radiogerät einschalten und kein Sender würde senden: Was genau würde Ihnen dann fehlen? Prüfen Sie nicht nur Ihren Verstand, prüfen Sie auch Ihren Körper daraufhin, welche Antworten Ihnen auf diese Frage einfallen. Ich würde wetten, dass in diesem Moment ihr Weltvertrauen, nichts Geringeres als das, ins Wanken gerät. Für die Gesellschaft bedeutet all das, dass sie sich im Klang des Radios auf ganz eigene Weise ihrer Existenz vergewissert. Das ist eine denkbar allgemeine Antwort auf die hier gestellte Frage. Aber es ist eine Antwort, so will mir scheinen, an der sich jede Rundfunksendung zu messen hat, wenn denn Vergewisserung bedeutet, sich nicht nur des Wissens, der Meinung und des Urteils, sondern auch des Zweifels, der Angst und der Ungewissheit zu vergewissern.

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