Eilmeldung_03

Steffen Grimberg über "Kandidaten der Herzen"

Eilmeldung! Das Rennen um die Kanzler*innenschaft ist gelaufen. Vergesst Laschet und Söder. Sollen die sich doch weiter gegenseitig falschen Dank und geheuchelte Unterstützung zuzirpen. Natürlich beide mit gekreuzten Fingern auf dem Rücken. Ich meine: Das nimmt doch keiner ernst. Söder war der Kandidat der Herzen, sagt der CSU-Generalsekretär in München ganz treuherzig und versucht dabei zu gucken wie „Niemand weint so schön und schnell wie im Film Maria Schell“. Die Älteren werden sich erinnern. Geht natürlich voll in die Hose. Ist uns Medien aber genau so natürlich eine Eilmeldung wert.

Und was macht Laschet, der alte Karnevalsritter? Nimmt das tierisch ernst und kontert mildbeleidigt mit: „Der Kandidat der Herzen bin ich auch“. Das sagt die Frohnatur aus Aachen allen Ernstes, hier, ich hab ne Eilmeldung, da steht alles drin. Die Union säuft also Doppelherz. Das braucht Nerven und gefährdet Ihren Kreislauf, meine sehr verehrten Hörerinnen und Hörer. Ganz wie bei dem gleichnamigen Tonikum, die Älteren werde sich erinnern.

Ist aber wurst, auch wenn wir Medien natürlich genau so eilmelden würden, wenn sich jetzt noch Friedrich Merz als drittes Herzchen der Union outet.  Der, so jedenfalls die letzte Meldung aus Magdeburg, soll ja nach dem Wunsch vieler CDU-Granden im Osten dem armen Laschet ans Tanzbein gebunden werden. Damit in den neuen Ländern die eher mal konservativen und auf starke Männer fokussierten Wählenden nicht in Scharen zur AfD abdriften. In Sachsen-Anhalt wird nämlich im Juni gewählt. Das ist bundesweit aber natürlich keine Eilmeldung wert. Wo war nochmal dieses Magdeburg?

Aber auch darauf kommt es nicht an. Wie gesagt: Die Sache ist durch. Medial jedenfalls. Die Grünen haben es geschafft. Eilmeldung und Tusch. Dabei sah es zunächst gar nicht danach aus. Küren die Annalena Baerbock ganz ruhig und beinahe feierlich zu ihrer Kanzlerkandidatin. Keine mediale Schlammschlacht, keine Intrigen. Sogar für ne Nachtsitzung bis in die Puppen hat’s nicht gereicht! Obwohl da immerhin ein Robert Habeck dran glauben musste. Und der Trottel erklärt sich danach nicht mal zum Herz-Ass gegen die Dame der Herzen. Ja wie soll es da da anständige Eilmeldungen geben?

Doch dann folgte der geniale Schachzug. Da gibt die erste grüne Kanzlerkandidatin ihr erstes langes Fernseh-Interview am Montag ProSieben. Das mediale Establishment kriegt Schnappatmung. Wo gibt’s denn so was? Beim Privatfernsehen? Und dann nicht mal bei RTL, sondern bei ProSieben? Annalena Baerbock - Germany’s next Bundeskanzlerin?

Was für ein Move, Digger! Echt nice! Eigentlich gehören solche Wichtigskeitsmomente der Politik ja automatisch per Rundfunkstaatsvertrag zu ARD und ZDF. Aber die waren doch eh mit den ganzen Eilmeldungen zu Laschet gegen Söder komplett ausgelastet. Also lässt sich die erste Grüne und jüngste und überhaupt Kanzlerkandidatin halt von Kathrin Bauerfeind und Thilo Mischke ins Gebet nehmen. Aber keine Angst! Annalena Bearbock taucht schon noch oft genug bei Illner auf. Oder bei Will. Plasberg. Maischberger. Lanz - Quatsch: Ganz bestimmt, versprochen!

Aber was sagen Sie? War gar nicht kritisch bei ProSieben und eher ne lockere Wohlfühl-Atmosphäre? Die die Fragen stellten fanden Baerbock ziemlich okay und haben zum Schluss sogar geklatscht? Skandal! Eilmeldung! Na bitte, klappt ja auch hier. Wobei: Geklatscht haben Bauerfeind und Mischke ganz am Schluss. Nicht weil sie gekauft waren. Sondern weil ja sonst Saalpublikum klatscht. Aber wegen Corona war da keiner. Es waren auch nicht alle Fragen unkritisch.

Dass Baerbock nicht ständig mit dem Refrain „Die hat ja gar keine Erfahrung und dann gleich Kanzlerin!“ in den Boden gerammt wurde, hatte sogar was Urdemokratisches. In der Demokratie dürfen nämlich alle mitmachen. Sogar ProSieben. Ja die Quote war mau. Aber allein für den Bauerfeind-Satz „Für die Grünen wurde ‚Tschenobyl‘ verschoben - das ist doch schon mal der erste große Erfolg“ hat sich’s gelohnt.

Das Interview wurde nämlich zur Primetime gesendet, also um Viertel nach acht. Und da läuft sonst gerade die internationale Erfolgsserie über den Atom-GAU von 1986, also ein Grünes Ur-Thema. Bevor Sie jetzt hier aber Verschwörungsmythen vermuten: Ist alles viel profaner. Und eigentlich keine Eilmeldung wert. Es geht um Medienpolitik. Da versucht ProSieben nämlich gerade die eigene Wichtigkeit in Sachen Gemeinwohl und gesellschaftliche Relevanz zu beweisen. Schwierige Kiste. Vor allem wenn der Sender, ach was - alle Fernsehkanäle des Medienkonzerns ProSiebenSat.1 - nicht mal anständige Nachrichten-Sendungen haben und dafür fortgesetzt Fernsehverbrechen wie „Germany’s Next Top-Model“ oder „Promis unter Palmen“ begehen.

Deshalb dürfen Joko & Klaas wie kurz vor Ostern auch schon mal abendfüllend den Pflegenotstand anprangern. Und jetzt kommt eben das Baerbock-Interview. Demnächst folgen - dann Eilmeldung garantiert - vielleicht noch die Doppelherzen der Union. Den Grünen kann das egal sein. Aber ProSieben muss noch deutlich zulegen, bevor wir glauben, dass das wirklich nachhaltig ist. Und nicht nur Greenwashing.