„Ein Ereignis ist nicht das, was passiert“

02.12.2014

Der Sozialpsychologe Harald Welzer hat mir mit dem Buch „Das kommunikative Gedächtnis“ sehr geholfen, zu verstehen, wie kompliziert Zeitzeugengespräche und Interwies im Allgemeinen sind. Im Grunde sind viele meiner Interviews Erinnerungsarbeit. Das Buch erklärt zudem, wie sehr wir Interviewer in unserem eigenen Leben gefangen sind und wie wichtig es ist, sich das immer wieder bewusst zu machen. Das Buch beginnt mit den naturwissenschaftlichen Grundlagen zu unserem Gehirn. Muss nicht gelesen werden, ist aber durchaus interessant – alleine um sich noch einmal klar zu machen, wie komplex die Fabrik Gehirn aufgebaut ist. Besonders empfehlenswert sind die Kapitel in denen es um das „kommunikative Gedächtnis“ geht. Die These ist: Unser Gedächtnis und damit die biografische Erinnerung bildet sich in der sozialen Interaktion mit anderen Menschen. Wir kennen das. Wir erinnern Ereignisse aus unserer Kindheit, die wir eigentlich kaum erinnern dürften, weil wir viel zu klein waren. Trotzdem haben wir sehr klare Vorstellungen davon: wir erinnern Erzählungen, die wir auf Familienfeiern wieder und wieder gehört haben und machen diese Erzählungen zu unseren eigenen Erinnerungen. Bei den Interviews zur „Helfgoland“ fiel mir auf, dass bestimmte Aussagen immer wieder kehren. Es gibt bei den Besatzungsmitgliedern ein paar kollektive Erzählungen, die in den Interviews reproduziert werden. Zum Beispiel werten viele die Gefahr heute ab, Bomben, Raketenangriffe, all das sei damals kaum ein Thema gewesen. Zur Vorbereitung auf die Interviews habe ich „Nur leichte Kämpfe im Raum Da Nang“ von Hans-Dieter Grabe angesehen. Grabe zeigt in seinem Film kriegsverletzte Kinder und die Kamera filmt Operationen an Bord, schonungslose Offenheit. Ich konnte den Film beim ersten Mal nicht bis zum Schluss ansehen. Es war tatsächlich eine zu große Belastung. Daher auch meine Frage: wie groß muss die Belastung erst für die Besatzung gewesen sein. Ging es um das Thema in den Interviews wurde abgewiegelt: „Es war unser Job“ – und tatsächlich habe ich meine These etwas revidiert. Auch weil mir eine befreundete Ärztin bestätigt hat, dass schwere Verletzungen Alltag werden können. Es ist dennoch gut dafür sensibilisert zu sein, wenn Erzählungen innerhalb einer Gemeinschaft immer wieder kehren. Denn das deutet darauf hin, dass es sich dabei um kollektiv geschaffene Erinnerungen handelt, die nach gemeinschaftlichen Maßstäben neu bewertet werden. „So schlimm war es gar nicht“ hilft schließlich auch, bedrückende Erlebnisse ins Gegenteil zu verkehren. Das muss nicht sein, überhaupt nicht. Aber es lohnt, diesen Aspekt im Interview dann mehrfach anzusprechen und die Fragestellung beharrlich zu variieren. Tatsächlich sagte mir ein Interviewpartner dann noch, dass vieles auch verdrängt worden sei. Das ist nun aber kein Plädoyer dafür, nur seine eigenen Ansätze zu bestätigen. Zurück zum Buch. Im Buch geht Welzer auf einen anderen sehr interessanten Aspekt der Erinnerung ein. Vielfach wird Erinnerung durch kulturelle Codes überformt. Bei der Erinnerung über den Zweiten Weltkrieg beispielsweise, nutzten Zeitzeugen Filme und Bücher für ihre Erzählungen und integrierten diese unbewusst in ihre eigene Erinnerung. Ich finde, das zeigt noch einmal wie wichtig eine breite Recherche sein kann. Schließlich erkenne ich als Autor solche Überformungen nur, wenn ich die Vorlagen kenne. Wenn überhaupt. „Das kommunikative Gedächtnis“ liest sich gut, es ist wissenschaftlich fundiert mit vielen Beispielen und hilft bei Interwies ungemein. Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. C.H. Beck Verlag.

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