"Ein Meer von Audio"

Essay von Hans Knobloch

Ein Meer von Audio

Werner Herzog verriet im Sommer 2020 den britischen Filmjournalisten Mark Kermode und Simon Mayo, wie die Pandemie in den Griff zu bekommen sei: "The most defensive is the most aggressive attitude against the virus." Das Medium, das er für seine Botschaft wählte, war "Kermode and Mao's Film Review" Podcast. Es hätte nicht passender sein können. Podcast wurde neben Videostreaming zum Medium der Pandemie. Was Herzog über das Virus sagte, lässt sich auch als Charakterisierung für das neue Medium verwenden. Podcasting ist das bisher defensivste Medium des digitalen Zeitalters, Podcasts können unaufdringlich und zugleich eindringlich sein wie Dokumentarfilme von Werner Herzog.

Wie erklärt sich diese Eigentümlichkeit?

Eine mögliche Antwort könnte lauten, Podcasts sind eine Form der Selbstermächtigung zum Zuhören. Sie öffnen Zeitfenster für Gespräche und Geschichten, die in anderen Medienformaten keinen Platz haben, weil dort in kürzester Zeit eine Sau nach der anderen durchs Dorf getrieben wird, jede noch unglaublicher, empörender oder sensationeller als ihre Vorgängerin.

Podcasts unterhalten, sie fesseln mit guten Geschichten oder manchmal auch mit Klatsch und Tratsch. Yuval Harari, Autor von "Eine kurze Geschichte der Menschheit", verortet hier sogar den Ursprung dessen, was uns zum Homo Sapiens gemacht hat. Erst die Sprache, die uns befähigt, Geschichten über andere auszutauschen, ermöglicht Kooperation in der Gruppe, die entscheidend für das Überleben ist. Hier scheidet sich der Mensch vom Tier, er wird zum "storytelling animal".

Die amerikanische Schriftstellerin Joan Didion spitzt das zu, indem sie sagt: "Wir erzählen uns Geschichten um zu leben." Podcasts greifen dieses archaische Bedürfnis auf. Da ist zum einen die Nähe zur Urform des Geschichtenerzählens ohne den kognitiven Mehraufwand der Übertragung in Schrift, die die Medienkritik seit Platon thematisiert. Mit den Kopfhörern im Ohr begeben wir uns in bildlich in eine Höhle, einen geschützten Raum, abgekoppelt vom Weltenlärm, wo die Erzählstimme direkt in den Schallraum zwischen beiden Ohren eintritt, und so für eine Nähe und Intimität von Hörer und Erzähler sorgt, wie sie bestenfalls in der katholischen Beichte erfahren wird.

Roland Barthes sprach in diesem Zusammenhang von "Ohrenbeichte", was das immersive Hörerlebnis von Podcasts schön beschreibt. Auch in den Anfangstagen wurde so Radio gehört. Erst mit der zunehmenden Fragmentierung der Mediennutzung wurde die Aufmerksamkeit für das Radio disparat, schied sich in gerichtete und ungerichtete Aufmerksamkeit. Aus Zuhören wurde Nebenbeihören. Mit Podcasts gewinnt das Hören nun seine Bedeutung zurück.

Das Vergnügen des Erzählens

"Audio erzählt wirklich", sagt Sven Preger, Autor des Buchs "Geschichten erzählen. Storytelling für Radio und Podcast". Podcasts verdichten medial vermittelt das menschliche Grundbedürfnis nach Erzählung. Dabei greifen sie dramaturgische Grundprinzipien auf, die gelten, seit es Geschichten gibt und die von Aristoteles zum ersten Mal in seiner Poetik festgehalten wurden. Er spricht dort vom "speziellen Vergnügen", das Erzählen bereitet, weil es in einer komprimierten Form zeigt, wie Menschen Veränderungen durchmachen, egal ob sie dabei wachsen oder scheitern. Vom Hollywood-Blockbuster bis zur Hörfunk-Reportage im öffentlich-rechtlichen Radio folgen alle Erzählungen diesen Prinzipien.

Am Anfang von Geschichten stehen Fragen. Es müssen nicht immer die großen Fragen sein, gerade die kleinen Rätsel des Alltags beschäftigen und animieren uns zum Geschichtenerzählen. Wie zum Beispiel die vom Anhalter Heinrich, der am Kölner Verteilerkreis, einer beliebten Stelle für Tramper, Passanten nach Geld für eine Reise anschnorrt. Nach Zürich wolle er, ein Zurück sei nicht vorgesehen, weil er dort aktive Sterbehilfe suchen wolle. Mehrere Jahre erzählt Heinrich diese Geschichte, unter anderem auch Sven Preger und einem Journalistenkollegen des WDR. Die Verblüffung der beiden wurde zum Ausgangspunkt für die Podcast-Reihe "Der Anhalter" (Kritik in epd 28/16).

Doch es braucht nicht immer das aufwendige Reportage-Format, um einen Podcast zu starten. "Bergfreundinnen" vom BR ist aus einer Facebook-Gruppe entstanden. Drei junge Frauen, die leidenschaftlich gern Bergsteigen, erzählen von den Tiefen und Höhen, die sie auf dem Weg nach oben durchleben. Ein Spiegelbild für das Leben. Introspektive, kleine große Heldinnenreisen von Millennials. "Bergfreundinnen" wurde beim BR in einem "Design-Sprint" entwickelt, bei dem die Zielgruppe von Anfang an einbezogen war. Zusammen mit der Munich-Mountain-Girls-Community, aus der die Protagonistinnen kommen, entstanden Prototypen, aus diesen dann die Podcast-Reihe. Das kommt einer kleinen Revolution gleich. Wird diese Vorgehensweise Schule machen und das Radio bald überflüssig sein?

Radio der langweilige Onkel

Mit der Digitalisierung brach in den Medien die Zeit des "Prosumers" an, einer Zwittergestalt aus Produzent und Konsument. Eine Idee, die ursprünglich von Ikea populär gemacht wurde: Der Käufer des Regals darf (oder muss) es selbst aufbauen und sich als sein Schöpfer fühlen. YouTube, Twitter und Instagram, sind die medialen Ikeas. Wir konsumieren dort Inhalte und füttern diese Kanäle zugleich mit eigenen Inhalten. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, ist Radio old school. In endlosen Redaktionskonferenzen wird überlegt, was morgen auf einem vorgegebenen Sendeplatz mit begrenzter Sendezeit gesendet werden soll.

Aus der Podcast-Perspektive betrachtet, wirkt Radio wie der langweilige Onkel. Soziale Netzwerke lehrten die heutige Podcaster-Generation, selbstverständlich Kontrolle über die Inhalte auszuüben. Auch darüber, wann und wo sie online gehen. Vor- und Zurückspulen, Inhalte überspringen, der Nutzer hat alles im Daumen. Vor dem Durchbruch des Smartphones waren Podcasts ursprünglich Audio-Blogs, inhaltlich häufig sehr techniklastig und von der Handhabung aufwendig - kurz, ein Nerd-Medium. Zwar gab es hier und da auch Radiosendungen zum Nachhören, vor allem von den Öffentlich-Rechtlichen - BBC4 hat das intellektuelle Aushängeschild "In our time" schon vor 15 Jahren als Audio-on-demand auf die Webseite gestellt. Die explosionsartige Vermehrung von Podcasts setzte aber erst mit der Durchdringung von Smartphones und schnellem mobilen Internet zwischen 2010 und 2015 ein. Zugleich erfolgte eine Loslösung von den Ursprüngen, die im Hörspiel, in der Radioreportage oder im Talk liegen.

Beim Hören von "Fest & Flauschig" mit Jan Böhmermann und Olli Schulz ist unverkennbar Radio als "kulturelle Referenz" auszumachen, und doch wäre ein Format wie "Fest & Flauschig", das mittlerweile zweimal pro Woche auf Spotify veröffentlicht wird, mittlerweile im Radio kaum noch denkbar. Mehr noch, Radio scheint für das strukturelle Verständnis des neuen Genres eher hinderlich zu sein. Tatsächlich ist eine "Erblinie" von Podcast bei YouTube zu finden. Erfolgreiche Video-Influencer haben irgendwann angefangen, die gleichen Inhalte noch mal als Podcast zu verwursten. Mit der Zeit entdeckten sie, dass Audio das geeignetere Format ist. Das hat mit der Aufmerksamkeitsökonomie zu tun. Bild und Ton zugleich erfordert mehr Aufmerksamkeit als nur Ton. Außerdem erlaubt die Beschränkung aufs Hören eine vielfältigere Nutzung, vor allem unterwegs. YouTube lässt sich beim Joggen, Autofahren oder beim Einkaufen nicht konsumieren. Podcasts hingegen können in einfache Alltagstätigkeiten gut integriert werden.

Das englische Wort für Rundfunk ist Broadcast, und es macht deutlich, was Radio und Podcast trennt. Rundfunk sendet in die Breite. Podcasts hingegen decken eine Bandbreite von "mass" bis "small scale media", ja sogar "personal media" ab und können im Mediensprech äußerst "nischig" sein, wie selbst öffentlich-rechtliche Kulturprogramme es nicht sind. Der hohe Aufwand, was die Distribution und die redaktionelle Erstellung von Inhalten angeht, zwingt Rundfunk immer "in Masse zu denken". Die lineare Begrenzung der Sendezeit erfordert eine starke Selektion der Inhalte. Podcast verhält sich zu Rundfunk daher eher wie Fachzeitschriften und Fanzines zu auflagenstarken Printmagazinen.

Der Nachrichten-Podcast der "New York Times", "The Daily", allerdings überflügelt an Reichweite sogar das Blatt, und kommt dabei mit weitaus weniger Ressourcen aus. Schwindelerregend wird die Bilanz Aufwand - Reichweite beim Podcast "The Joe Rogan Experience". Jede Folge dieses amerikanischen Talkformats erreicht mit einer Handvoll Mitarbeitern um die zwei Millionen Downloads auf Spotify. Damit ist der Comedian der weltweit erfolgreichste Podcaster. Kann man das noch als Nische bezeichnen?

Geht man von der Summe aus, die Spotify ausgab, um Joe Rogan exklusiv an die Plattform zu binden, dann müsste die Antwort Nein lauten: 100 Millionen Dollar ließ sich die Audioplattform die Exklusivität kosten. Das Zugpferd Joe Rogan soll Podcasting zu mehr Prominenz verhelfen, um Spotifys Abhängigkeit von den teuren Musikinhalten zu reduzieren. Schließlich hat der schwedische Musikstreaming-Anbieter den Anspruch, die weltgrößte Audioplattform zu werden.

Ist Spotify dabei, eine Art globales Radio zu werden? Was den Content angeht, lässt sich das vorsichtig bejahen. Würde man alle Radioprogramme in eine Sortiermaschine geben, würden die Inhalte gut sortiert und sauber getrennt in Einzelbestandteile "entbündelt", kämen Musiktitel, Wortinhalte und Jingles heraus. Dieses sogenannte Unbundeling ist ein wesentliches Kennzeichen der Digitalisierung. Und nachdem bereits die Musik aus dem linearen Contentstrom herausgelöst wurde, ist nun mit den Podcasts das "narrative Audio" dran. Je diverser die Programme, die in die Sortiermaschine gesteckt werden, desto feinteiliger, granularer werden die einzelnen Inhalte. Verfügbar wird nun plötzlich alles und nicht mehr nur das, was ein Akteur der linearen Medienwelt als Auswahl vorsetzt.

In einem "Meer von Audio" kann sich der Nutzer vergnügen, aber auch verlieren. Die Auffindbarkeit ist die große Herausforderung, die bisher noch keine Plattform im Griff hat. Noch bestimmen Zufälle und Nutzungsgewohnheiten die Treffer. So gesehen sind die Plattformen und das Radio sehr wohl zwei unterschiedliche Hemisphären der Audiowelt.

Podcast – die laienhafte Nichte?

Podcasts stehen dort, wo sich die beiden Hemisphären überlappen. Wie in der Frühphase des Fernsehens, als Fernsehfilme abgefilmten Theateraufführungen ähnelten, ehe sie sich zu einem eigenständigen Genre herausbildeten, sind Podcasts dabei, sich vom Medium Radio zu lösen, um sich zu einem neuen Audio-Genre auszuformen. Hierin liegt der Ursprung des Bruderzwists zwischen Radio und Podcasts begründet. Für Radio kam Podcasting als Frischzellenkur gelegen, weil es den Anschluss an die Digitalisierung verhieß. Mit der von vielen Jahren Mediengeschichte breit geschwellten Brust konnte Radio auf das noch junge, unerfahrene Medium väterlich herabblicken und Podcast als etwas nervige, "laienhafte Nichte" abstempeln, die noch viel lernen muss, um erwachsen zu werden.

Doch die Nichte ist mittlerweile zu einer selbstbewussten jungen Frau herangewachsen. Was hat diese Reifung angeschoben? Klassische Medien, besonders das Radio, waren früher sehr männerlastig. In der Geschichte des Radios tauchen Frauen als Moderatorinnen spät auf, früher waren sie eher die Ausnahme als die Regel. Ganz zu schweigen von Positionen im Management, wo Frauen so willkommen waren wie in der kalabrischen Mafia. Mit dem Aufstieg von Social Media haben sich die Gatekeeper-Rollen fundamental gewandelt. Um ein Podcast-Format zu entwickeln, zu produzieren und online zu stellen, braucht es keine Redakteure, Chefs vom Dienst oder Produzenten. Der Wandel ging mit einer noch vor zehn Jahren unvorstellbaren Vereinfachung der Produktionsbedingungen und einer starken Senkung der Kosten einher.

Heute kann die ganze Kreativität in den Inhalt fließen. Das erforderliche Online-Marketing-Know-how beherrschen viele Podcaster durch die Pflege der eigenen Social-Media-Kanäle aus dem Effeff. Beliebt sind die "Conversational"-Formate, die sogenannten Chatcasts. Sie sind schnell zu machen, und der Stoff geht nie oder selten aus. Denn zu besprechen gibt es immer was. Podcaster sprechen wie gute Freunde und Freundinnen über alles, was sie gerade bewegt. Das erinnert an den informellen Talk, wie ihn Ina Müller im Fernsehen pflegt, aber ohne Sendezeitbegrenzung. Daher werden Podcasts wie "Dick & Doof", "Herrengedeck", oder "Gemischtes Hack" gerne als "Labercasts" bezeichnet, doch diese Formate führen den Begriff "Unterhaltung" auf seine ursprüngliche Bedeutung zurück.

Genrebildend für die Chatcasts waren wiederum Podcasts aus Amerika, für die sich die Bezeichnung CHIP eingebürgert hat. Die steht für "Comedian Hosted Interview Podcast". Der bekannteste heißt "WTF with Marc Maron" und er läuft dort seit 2009. Hier ist Autobiografisches wie Depression oder Drogenabhängigkeit des Hosts ein wichtiger dramaturgischer Bestandteil. Der "diskursive Mix aus Humor und Ehrlichkeit" (Melanie Piper) erhöht nicht nur die Offenbarungsbereitschaft der Gäste, sondern sorgt auch für Glaubwürdigkeit. Der amerikanische Filmkritiker Nathan Rabin meinte, die Talks wirkten "kathartisch und beinahe wie eine Gratis-Therapie". Man könnte auch sagen, die Freudsche "Redekur" ist im Medium Podcast wiederauferstanden.

Möglich, dass die Generation Z, der permanenten Erregungswellen in den sozialen Netzwerken überdrüssig und eingezwängt zwischen den moralischen Imperativen von Wokeness und Political Correctness, gerade solche von Comedians gehosteten Podcasts als Ventil braucht. In der Geschichte fiel schon immer den Narren die Rolle zu, das auszusprechen, was niemand sonst den Mächtigen an den Kopf werfen durfte, ohne im Kerker zu landen. Die heutigen Herrschenden sind die Prominenten. Einblicke in deren Seele dürfen nun die Comedians in ihren Gesprächspodcasts nehmen. Der Blick in deren Abgründe ist ein postheroischer Befreiungsakt. 

Der Zug zum Antihelden ist nicht gleichzusetzen mit einer Abkehr vom Protagonisten. Im Gegenteil, der Erfolg eines Podcasts hängt vielmehr davon ab, wie sehr die Hosts Archetypen entsprechen, mit denen sich das Publikum identifizieren. Protagonisten sind Projektionsflächen für unsere Ängste oder unsere Lebensfragen. Das zeigt auch ein Blick auf die meistgenutzten Podcasts im deutschsprachigen Raum: Böhmermann und Schulz in "Fest & Flauschig", Sabine Rückert in "Zeit Verbrechen" oder Christian Drosten vom "Coronavirus Update" des NDR könnten kaum unterschiedlicher sein, aber ihnen allen ist gemeinsam, dass sie Protagonisten sind, ohne die es diese Podcasts nicht gäbe. Die Essenz eines jeden Podcasts ist die Erzählung einer Person.