von Barbara Thomaß
Öffentlich-rechtliche Medien in der digitalen Welt:
"Ein Public Open Space"
Gäbe es den öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht, müsste man ihn gerade jetzt erfinden.“ Mit dieser ersten von zehn Thesen, mit denen Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft vor einem Jahr an die Öffentlichkeit wandten, ist eine Behauptung gewagt worden, die derzeit manch einer in Frage stellen oder zumindest nicht in dieser offensiven Weise aufstellen würde. Uns, die Unterzeichner, trieb und treibt die Sorge um, dass angesichts der anhaltenden Spardebatten, die im zurückliegenden Jahr noch an Schärfe zugenommen haben, der Auftrag und vor allem die gesellschaftliche Leistung, die öffentlich-rechtliche Medien erbringen und mehr noch erbringen müssen, in den Hintergrund treten.
Die Frage, welchen Auftrag der öffentlich-rechtliche Rundfunk unter den Bedingungen der digitalen Medienwelt erfüllen soll, ist einfach zu beantworten, wenn man sich auf den Standpunkt stellt, dass derzeit alle erdenklichen Bedürfnisse nach medialer Versorgung durch das Überangebot im Netz befriedigt werden. Er hat dann keinen Auftrag mehr. Doch Masse ist nicht Qualität, Vielzahl ist nicht Vielfalt und die Kompetenz, im unendlichen Netz die geeigneten Inhalte zu finden, ist bei allen Mediennutzern noch ausbaufähig. Und man muss sich schon etwas genauer mit den Bedingungen der digitalisierten Mediengesellschaft befassen, um zu erkennen, welche enormen Aufgaben einer Organisationsform der Medien zukommen, die öffentlich finanziert, öffentlich kontrolliert und mit einem öffentlichen Auftrag versehen sind – dieser Dreiklang macht öffentlich-rechtliche Medien aus.
Die Digitalisierung verändert die Medienwelt radikal. Neue Technologien bringen neue Medienformate hervor, diese verändern Nutzungserwartungen und Nutzerverhalten. Die entstehende digitale Internetwelt ist eine Welt von multiplen Realitäten, die parallel nebeneinander existieren. Politische Öffentlichkeit unter den Bedingungen der Digitalisierung ist einem massiven Wandel unterworfen, manche sprechen auch von der Disruption, um die Dimensionen dieses Wandels angemessen zu beschreiben. Die Erscheinungsform dieses Wandels: Falschinformationen haben zugenommen, Halb- und Viertelwahrheiten kursieren, ein emotionaler Aufreger wird durch den nächsten scheinbar noch skandalöseren verdrängt, Verschwörungstheorien verbreiten sich viral in großer Geschwindigkeit, Vorurteile und vorschnelle Urteile verdrängen gesichertes Wissen. Die fälschlicherweise als sozial bezeichneten Netzwerke befeuern diesen Schwelbrand, der sich in die solide Information hineinfrisst, mit immer neuen Angeboten und Funktionalitäten, die von machtvollen Intermediären mit einem großen Forschungs- und Entwicklungsetat ständig auf’s Neue ersonnen werden.
Information und Kommunikation sind entscheidende Instrumente der Macht, konstatierte der spanische Soziologe Manuell Castells in seinem wichtigen Werk über die Netzwerkgesellschaft. Da der Datenkapitalismus ein Oligopol von fünf gigantischen Netzkonzernen hervorgebracht hat, sind stark vermachtete Strukturen entstanden, deren Geschäftsmodelle letztlich auf Big Data beruhen. Die Algorithmen, die die Selektion und Präsentation von Suchergebnissen und Informationen steuern, sind darauf angelegt, ein Maximum an personalisierten Daten zu erheben, um Werbung so passgenau wie möglich zu platzieren. Die Logik der Information ist am zahlungskräftigen Konsumenten ausgerichtet, nicht am Bürger. Die Algorithmen versetzen die Nutzer in separierte digitale Realitäten, wenn diese nicht ihrerseits aktiv werden und Angebote kennen und nutzen, mit denen sie diesen Filterblasen entkommen können. Wo solche Filterblasen als vorwiegende Kommunikationsräume sich ausdehnen, wächst die Entfremdung zwischen einzelnen sozialen Gruppen und insbesondere zwischen Eliten und breiten Teilen der Bevölkerung. Gelingt es nicht, diese verschiedenen Gruppen zusammenzuführen, vertieft sich die ohnehin bereits bestehende soziale Spaltung noch weiter. Die ökonomische Macht der Intermediäre ist somit demokratierelevant, weil sie die Voraussetzungen einer demokratischen Öffentlichkeit gefährdet, ohne dass irgendeine gesellschaftliche Kontrolle diese Macht bislang einhegen konnte.
Es ist also nicht so, dass das Überangebot an medialen Inhalten – content, wie das dann unterschiedslos genannt wird – ein an demokratischer Öffentlichkeit orientiertes Informationsangebot überflüssig machen würde – im Gegenteil. Die Informationsflut erfordert es geradezu, dass es verlässliche Orientierung gibt. Zwar tragen auch kommerzielle Medien, von denen es durchaus auch zahlreiche qualitativ hochwertige Angebote gibt, zu dieser Orientierung bei. Doch ist deren Existenz auch im Internet allein von einer marktwirtschaftlichen Funktionslogik abhängig.
Mit dem Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sollten die Mängel und Defizite kommerzieller Rundfunkanbieter ausgeglichen werden. Diese Ausgleichsfunktion ist angesichts von Algorithmen, Likes und Clickbaits als Selektionsmechanismen von Information für alle medialen Angebote hoch bedeutsam geworden. Das hat auch das Bundesverfassungsgericht in seinem jüngsten Urteil über die Rechtmäßigkeit des Rundfunkbeitrags bestätigt und sein Urteil unter anderem damit begründet, dass vor dem Hintergrund der Netz- und Plattformökonomie des Internet die Bedeutung der Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wachse, authentische, sorgfältig recherchierte Informationen anzubieten. Die Idee der Unabhängigkeit, die an der Wiege des öffentlich-rechtlichen Rundfunks stand – die zwar nie zur Vollkommenheit umgesetzt worden ist, doch deren verfassungsrechtlich garantierte Qualität immer wieder verteidigt werden konnte – diese Unabhängigkeit ist in einer vermachteten digitalen Medienlandschaft wichtiger denn je. Damit wird auf die demokratisch legitimierten Kontrollstrukturen öffentlich-rechtlicher Medien verwiesen. Und um einer zunehmend fragmentierten Gesellschaft entgegenzuwirken, besteht für öffentlich-rechtliche Medien die Aufgabe, die verschiedenen Teile der Bevölkerung miteinander zu verbinden. Der traditionelle Integrationsauftrag erhält hier eine neue, dringliche Aktualität.
Aber was können und sollen öffentlich-rechtliche Medien leisten, um eine Vielfalt von Informationen und Debatten zu ermöglichen, unsere Weltbilder um selten gesehene Perspektiven zu bereichern, und uns Einblicke zu geben in uns fremde Lebensverhältnisse, die ein demokratisches Miteinander so dringend nötig hat? Wir brauchen ein attraktives, wirkmächtiges, umfangreiches mediales Angebot, dass mit Garantie für inhaltliche Qualität und Vielfalt auf allen Ausspielwegen den Nutzerinnen und Nutzer Entdeckungen in einem an demokratischen Werten orientierten Kommunikationsraum erlaubt. Wir benötigen Spielräume für Qualitätsjournalismus und hochwertige Unterhaltung, die auch kostenintensiv sein darf, damit sie vom Publikum goutiert wird. Wir benötigen Angebote und Formate, in denen Nutzer mit ihren Projekten zu Produzenten werden können. Dafür müssen die Sender Plattform werden, die an den etablierten Nutzungsgewohnheiten anknüpfen, ohne durch Personalisierungen auf eine Verengung des Angebotes hinzuwirken. Zurzeit wird hier bei ARD und ZDF einiges ausprobiert und entwickelt – eine Herausforderung öffentlich-rechtlicher Angebote, die auch einem umfassenden Datenschutz Rechnung tragen muss.
Mit der Idee eines Public Open Space wird die Idee des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in die digitale Welt weiterentwickelt. Ein Public Open Space sollte die Wissensbestände und das Material, das mit öffentlicher Finanzierung zustande gekommen ist, einer breiten Öffentlichkeit digital zugänglich und nutzbar zu machen. Deshalb ist es ganz wichtig, dass nicht nur – neben allen öffentlich-rechtlichen Anstalten – Archive und Museen, sondern auch andere öffentliche Bildungs- und Kulturinstitutionen, Hochschulen und zivilgesellschaftliche Organisationen vertreten sind. Und auch der aktive Teil des Publikums, der sich medial ausdrücken will gehört auf eine solche große Plattform. Darüber hinaus gilt es auch, mittelfristig die europäische Dimension mitzudenken, denn das Internet ist nicht in kleine national begrenzte Räume aufzuteilen. Wir arbeiten mit einer Gruppe von Medienwissenschaftler und -praktikern daran, das Konzept eines European Public Open Spaces namens EPOS zu entwickeln, das den ganzen europäischen Reichtum audiovisueller und textbasierter Inhalte vereint. Das ist sicher Zukunftsmusik, aber an die Klänge sollten wir uns schon einmal gewöhnen.
Für den bestehenden öffentlich-rechtlichen Rundfunk bedeutet dies, dass er lernen muss – das gilt für die Redaktionen, die Intendanten und die Gremien. Sie alle müssen mit einem anderen – neuen? – Blick auf das Publikum dialogfähig und offen für den Wandel sein. Es braucht technische, inhaltliche, organisatorische und mentale Veränderungen, um in der vernetzten Medienwelt zu der Anlaufstelle zu werden, die Filterblasen platzen lassen kann. Es braucht Innovationsbereitschaft und Experimentierfreude in den Sendern und Redaktionen. Um noch besser als eine Plattform für den Austausch unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen zu agieren, ist der Austausch der öffentlich-rechtlichen Medien mit allen Teilen der Gesellschaft erforderlich. Diese Dialogfähigkeit beinhaltet auch, selbstbewusst zu vertreten, was die Öffentlich-Rechtlichen leisten. Und es heißt auch, sich in einen permanenten Dialog zu begeben, um die Rolle der öffentlich finanzierten Medien für die Öffentlichkeit immer wieder auf’s Neue zu beschreiben und weiterzuentwickeln. Denn so viel ist klar: Kein starrer Auftrag, sondern eine fluide Weiterentwicklung in die digitale Welt mit dem Qualitätsanspruch und den Erfahrungen der Öffentlich-Rechtlichen wird in der digitalen Zukunft einen demokratischen Freiraum absichern.