"Eine digitale Plattform für Europa"

Ein Essay von Johannes Hillje

Europa braucht einen gemeinsamen digitalen Kommunikationsraum  

Seit fast zwei Jahren schon kursiert im medienpolitischen Diskurs die Idee einer europäischen Digitalplattform. Der ARD-Vorsitzende Ulrich Wilhelm war einer der ersten, der von einem solchen Projekt sprach. Er beschrieb sie als eine "europäische digitale Infrastruktur" - etwa als Alternative zu Youtube und Facebook. Im Aachener Vertrag haben sich die Regierungen von Frankreich und Deutschland im Januar diesen Jahres auf ein bilaterales Projekt dieser Art verständigt. Angestrebt wird "eine digitale Plattform (…), die sich insbesondere an junge Menschen richten" soll. Mit dem Projekt "Enter!" arbeiten Deutsche Welle und France Médias Monde nach eigenen Angaben bereits an einer solchen Plattform.  

Das Argument für derartige Vorhaben liegt angesichts der Unzuverlässigkeit von sozialen Netzwerken wie Facebook und anderen Plattformen bei der Herstellung einer demokratischen Öffentlichkeit auf der Hand. Die privaten Plattformgiganten verfolgen in erster Linie eine Ökonomisierung, nicht eine Demokratisierung von Öffentlichkeit. Die heutige digitale Öffentlichkeit ist eine nahezu vollständig privatisierte Öffentlichkeit. Bei der Kommodifizierung (also des "Zur-Ware-Werdens") des öffentlichen Austausches spielt es für die Plattformen im Grunde keine Rolle, ob Nutzer mit rechtskonformen Inhalten oder eben mit Hass, Propaganda und Desinformation interagieren. Die unzureichenden Maßnahmen von Facebook, Youtube und anderen gegen Rechtsverstöße auf ihren Plattformen legen nahe, dass ökonomische Erwägungen stets über demokratischen und nicht selten sogar über juristischen Aspekten stehen.    

Hinzu kommt, dass sich die Mehrheit der Plattformen, welche die Infrastruktur für unseren öffentlichen Diskurs als Europäer zur Verfügung stellen, im Besitz amerikanischer Unternehmen befindet. Ihre Geschäftsmodelle beruhen auf der Sammlung und Monetarisierung persönlicher Daten. Damit sitzen sie auf immensen Datenbergen über die Europäer. Europa hat nicht nur keine Souveränität über seine Daten, es fehlt Europa gar an digitaler Souveränität insgesamt, denn auch die Algorithmen der Plattformen sind amerikanisches Betriebsgeheimnis. Bei der Setzung eines europäischen Standards für den digitalen Raum hat Europa bereits viel Zeit verloren.

Vereinfacht kann man sagen, dass es neben dem amerikanischen Modell für das Internet (dem Datenkapitalismus), auch ein chinesisches (dem Datenautoritarismus) und mit Einschränkungen auch ein russisches gibt, aber kein europäisches. Ein weiteres Argument für eine europäische Plattform. Zu kurz kommt in dieser Debatte oft ein weiterer Aspekt, der uns als Demokraten und als Europäer auf den Plan rufen sollte: Ohne eine europäische Öffentlichkeit wird es eine lebendige europäische Demokratie nicht geben. Heute ist die öffentliche Arena in Europa in erster Linie national und zunehmend privat-digital organisiert. Gemessen an den Themen, Akteuren und Perspektiven sind öffentliche Debatten über europäische Politik einseitig national geprägt. Die Mitgliedsländer reden zwar mittlerweile viel mehr als früher über die Europäische Union und übereinander - zwei oder drei Meldungen über Europapolitik in der "Tagesschau" sind keine Seltenheit mehr - aber immer noch viel zu wenig miteinander. Dazu müssten nicht nur einzelne Stimmen von EU-Kommissaren, sondern eine Pluralität von Stimmen aus den anderen Mitgliedsstaaten in der Berichterstattung vorkommen.  

Der Medienwissenschaftler Andreas Hepp, der gemeinsam mit anderen Autoren eine umfangreiche Studie zur Europäischen Öffentlichkeit veröffentlicht hat, kommt zu dem Urteil, dass bis heute weder eine gesamteuropäische Öffentlichkeit existiert, noch eine angemessene Europäisierung nationaler Öffentlichkeit eingetreten ist. Stattdessen verhandelt Europa europäische Themen in nationalen "Filterblasen", die eine europäische Meinungsbildung unmöglich machen. Die Bürger bekommen Informationen über europäische Politik in ihren nationalen Medien durch einen nationalen Filter serviert. Dieser Diskurs legt den Fokus allzu oft auf den nationalen Saldo statt auf die europäische Solidarität, er kennt das nationale Interesse als Bewertungsmaßstab, aber zu selten das europäische Interesse.  

Hinzu kommt, dass die Medien zuvörderst über Krisen berichten und diese Berichterstattung gern zum Kampf "Nation gegen Nation" zuspitzen. Damit schüren sie Misstrauen gegenüber den europäischen Institutionen, die eigentlich in Konflikten vermitteln sollten. Es entsteht ein politmedialer Teufelskreis aus Konflikt, News und Nationalismus.     Unterm Strich könnte man sagen, dass populistische Nationalisten in zweifacher Hinsicht von den heutigen Strukturen der Öffentlichkeit in Europa profitieren. Zum einen müssen sie ihre nationalistischen Positionen in nationalen Diskursen nicht gegenüber einem europäischen Gemeinwohl rechtfertigen, zum anderen können sie mit Fakes und Troll-Armeen die Meinungsbildung im digitalen Raum beeinflussen. Und dabei agieren sie bereits grenzüberschreitend, wie etwa die digitalen Kampagnen der Rechten gegen den UN-Migrationspakt im letzten Jahr zeigten.  

All das macht deutlich: Die Schaffung eines europäischen Kommunikationsraums ist ein Demokratieprojekt. Ein Projekt, das die notwendige öffentliche Kontrolle der politischen Institutionen in der europäischen Demokratie effektiv ermöglicht, gleichzeitig aber auch diesen Institutionen die Legitimation ihrer Politik erleichtert. Ein Projekt, das die digitale Öffentlichkeit demokratisieren und von den Zwängen der Aufmerksamkeitsökonomie befreien könnte.  

Ein Akteur, der für eine solche Rolle prädestiniert ist, ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk. Nach der Instrumentalisierung des Rundfunks durch die Nazis sind die Öffentlich-Rechtlichen in der Bundesrepublik Deutschland zu einer Säule der Demokratie geworden. Heute ist die Demokratie europäisch und die Öffentlichkeit digital, deshalb ist eine Europäisierung und Digitalisierung des Rundfunks notwendig.   Schon jetzt spielt die europäische Ebene eine wesentliche Rolle für nationale Gesetze. Spätestens aber, wenn die europäische Integration langfristig weiter voranschreitet, bräuchte es einen europäischen Rundfunk. Einen Wachhund für die europäische Demokratie. Staatsfern, mit paneuropäischer Redaktion und digitaler Ausrichtung. Das sollte die langfristige Perspektive sein. Ein erster Schritt dorthin wäre eine europäische Digitalplattform, die man jedoch nicht nur über das Infrastruktur-Argument denken sollte, sondern vor allem über das inhaltliche Angebot.    

Die geringfügige Nutzerabwanderung bei Facebook nach dem Skandal um das Datenanalyseunternehmen Cambridge Analytica, das über das soziale Netzwerk an die Daten von mehr als 80 Millionen Menschen gelangt war, hat gezeigt, dass der Datenschutz für die Nutzer nicht das entscheidende Kriterium bei der Plattformwahl ist. Es muss einen inhaltlichen und funktionalen Mehrwert geben. Was dieser Mehrwert sein könnte, sollte man am besten bei den EU-Bürgern direkt herausfinden. Der erste Schritt könnte also eine öffentliche Konsultation sein. So könnte man die europäische Plattform bottom up aufbauen - ein angenehmer Kontrast zur Top-Down-Bauweise der EU insgesamt wie auch zum wenig partizipativen nationalen Rundfunk.  

Es lohnt sich aber darüber nachzudenken, was eine solche "Plattform Europa" aus normativer Sicht bieten sollte. Schließlich würde sie einem Gemeinwohlauftrag folgen. Bei einigen Verfechtern der Europa-Plattform hat man den Verdacht, dass es vor allem darum geht, attraktivere Verbreitungswege als Youtube für die eigenen Produktionen zu schaffen. Damit würde die Plattform in erster Linie die Abbildung nationaler Vielfalt in Europa fördern, was zweifelsohne ein wichtiges Anliegen ist. Für die europäische Gemeinschaft ist aber noch wichtiger, wirklich europäische Angebote zu schaffen. Damit sich Europäer nicht nur Europa zugehörig, sondern auch untereinander zusammengehörig fühlen.

Erstens wäre dazu ein europäisches Nachrichtenangebot wichtig, das von einem europäischen Newsroom für europäische Themen produziert wird. Neben Nachrichten könnte man auch über europäische Politik-Talkshows nachdenken, um das beinahe tägliche nationale Selbstgespräch im Fernsehen um eine europäische Version zu ergänzen. Zweitens muss es über Nachrichten hinausgehen, um breitere Massen zu erreichen. Das könnte mit Unterhaltungsangeboten wie etwa einer europäischen Kochshow gelingen. Und drittens sollte es auch Möglichkeiten zum direkten Austausch der Menschen in Europa geben. Sprachbarrieren können schon heute mit Live-Übersetzungen durch Künstliche Intelligenz gesenkt werden, wie die App "Talking Europa" im Europawahlkampf unter Beweis gestellt hat.  

Es stellt sich die Frage, wer ein solches Projekt sinnvollerweise umsetzen sollte. Angesichts der immensen Größe dieses Projekts braucht es schlagkräftige, erfahrene und öffentlich akzeptierte Akteure. Das sind in Europa die öffentlich-rechtlichen Medien, die laut Eurobarometer EU-weit das höchste Vertrauen unter verschiedenen Informationsangeboten genießen. Die Rundfunkanstalten sind in der Europäischen Broadcasting Union (EBU) organisiert. Es sind dort zwar auch einige nicht-europäische Medien Mitglieder, dennoch ist es ein etablierter Rahmen, in dem die Öffentlich-Rechtlichen aus der Europäischen Union zusammenkommen.  

Die "Eurovision Presidential Debate" mit den Spitzenkandidaten vor den Europawahlen war ein Beispiel einer EU-internen Kooperation innerhalb der EBU. Zur Finanzierung kann und muss die Europäische Union einen Beitrag leisten. Es böten sich beispielsweise die Einnahmen aus der geplanten Digitalsteuer an. Die öffentliche Finanzierung darf natürlich nicht die redaktionelle Unabhängigkeit gefährden, dafür kann man sich an den Strukturen und Regelungen auf nationaler Ebene orientieren. Bei Euronews ist diese Unabhängigkeit heute nicht gewährleistet, denn an die Teilfinanzierung dieses Angebots durch die Europäische Kommission ist eine Vereinbarung gekoppelt, die dem Sender auferlegt, wie viel Sendezeit mit europäischer Politik zu füllen ist. Der Verdacht der "EU-Propaganda" darf nicht einmal im Keim aufkommen, sonst wäre ein solches europäisches Demokratieprojekt von vornherein gescheitert.  

Die europäische Plattform muss von mehr Ländern als nur Deutschland und Frankreich gestartet werden. Alle willigen Länder sollten von Anfang an mitmachen. Eine Beteiligung aus Ländern, die von illiberalen Regierungen geführt werden, ist unwahrscheinlich. Das Angebot muss daher von vornherein für ganz Europa und multilingual sein. Es ist die zentrale Stärke der digitalen Kommunikation, dass sie die Vermittlung von Informationen losgelöst von nationalen Mediensystemen ermöglicht. Die Plattform würde unabhängige Informationen dahin zurückbringen, wo sie bereits abgeschafft wurden oder bedroht sind.  

Wie die Organisation Reporter Ohne Grenzen im April mitteilte, hat sich der Zustand der Pressefreiheit in Europa im vergangenen Jahr erneut in Besorgnis erregender Weise verschlechtert. Mit der europäischen Plattform würde die europäische Demokratie einen Wachhund bekommen, der gleichermaßen europäische Institutionen wie auch nationale Regierungen im Blick hat. Die transparenten Algorithmen würden persönliche Vorlieben mit gesellschaftlicher Relevanz verbinden, aber nicht jene belohnen, die Hass, Lügen oder Hetze verbreiten. Populismus und Extremismus fungieren auf der gemeinwohlorientierten Plattform nicht als Quellen für Wertschöpfung, sondern sind zu sanktionierende Verstöße gegen den rechtlichen und normativen Rahmen, in dem die Europäische Union einst angelegt.