Grenzen sprengen

03.11.2015

Das Radiofeature ist ein Medienjuwel. Es ist Radiokunst, und doch steht es im Schatten seiner bekannteren Schwester, des Hörspiels. Das ist unfair. Hörspiel unterhält, je nach Format dahinplätschernd oder erdenschwer, doch das Feature bildet und formt. Radiofeature ist Radio ohne Grenzen. Es hält sich nicht an althergebrachte Formen und Formate. Es greift aus in Zeit und Raum und durchmisst den konkreten Fall, das einzelne Schicksal, die aktuelle Begebenheit im selben Atemzug wie die grossen Fragen der Zeit. Das war so bei Meilensteinen der Rundfunkgeschichte wie Glocken in Europa von Peter Leonhard Braun, und es ist so bei Stücken wie Lifestyle von Jens Jarisch.

Man kann es auch ganz einfach sagen: Ein Radiofeature ist dann gut, wenn uns beim Hören die Luft wegbleibt. Vor eineinhalb Jahren wurde ich an die internationale Featurekonferenz in Leipzig eingeladen, wo ich als Multimedianer, wie mich das Schweizer Gratisblatt 20Minuten genannt hat, die anwesenden Featureautorinnen und Radiomenschen provozieren sollte. (Was ich denn auch tat, aber das - au weia! - ist eine andere Geschichte.) Nach meinem Referat hörte ich mir, zusammen mit all den Grössen des Genres, Auszüge aus grossartigen Stücken an wie Frau, tot aufgefunden am See von Hugo Lavett.

Und dann, mitten in diese weit ausgreifenden, sorgfältig komponierten radio documentaries hinein, feuerte die junge Kathy Tu ihr Hörstück ab, The Fighter Pilot, ein Stück über einen Kampfpiloten der US Air Force und einen seiner tödlichen Einsätze im Irak, atemlos, sechseinhalb Minuten kurz, auf den Hörer zurasend wie eine Luft-Boden-Rakete, ein Stück wie Sprengstoff, gebaut von einer Freelancerin in einem Ferienkurs - ein Radiofeature? Wir sassen da, mit einem Schweissfilm auf der Stirn. Was wir da gehört hatten, mochte sein, was es wollte. Es hatte uns umgehauen.

Peter Leonhard Brauns Glocken in Europa endet mit Glockenschlag und Kanonendonner, Kathy Tus Fighter Pilot mit dem Raketeneinschlag in der Wüste. Seit seiner Entstehung 1937 bei der BBC sprengt das Radiofeature Grenzen, Grenzen der Form und Grenzen der Konvention. Und wenn uns dann die Druckwelle umhaut, dann, ja dann wissen wir wieder, was Radio kann.

Thomas Weibel

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