Grosse Vergangenheit, grosse Zukunft

05.11.2015

Für mich als Kind war der grösste vorstellbare Luxus ein eigenes Radio - in Form des koffergrossen Röhrenempfängers meiner Grosseltern, der von einem modernen Transistorradio in Rente geschickt worden war. Dieser Apparat in poliertem Nussbaum mit seinem Lang-, Mittel-, Kurz- und Ultrakurzwellenempfang war die reinste Seligkeit. Wenn ich statt dem Schweizer Sender Beromünster verrauschte Muezzinrufe aus Algerien in die Lautsprecher bekam, dann hielt ein ganzer Kosmos Einzug in mein Kinderzimmer. Ich hörte und hörte, und als der Röhrenverstärker ob all den zusätzlichen Lautsprechern, die ich auf Flohmärkten ergattert, angelötet und überall im Zimmer angebracht hatte, mit müdem Seufzen und grauem Räuchlein sein Leben aushauchte, hatte ich neben Weltpolitik gleich auch noch die Grundlagen des elektrischen Widerstandes verstanden.

Mit zwölf war ich mit meiner Rundfunkbegeisterung noch ziemlich allein. Meine Schulkameraden brachten für meine Passion wenig Verständnis auf, einzig Liveübertragungen von Fussballspielen fanden ihre Gnade. Heute, vierzig Jahre später, hören sie alle hin. Stunden-, tagelang, beim Aufstehen, im Auto, im Büro, beim Einkaufen, unterwegs und zuhause auf der Couch. Aus den schweren Röhrenempfängern von damals sind Smartphones geworden, die winzigen Lautsprecher schieben wir uns ins Ohr. Für uns Radiomacher ist das Paradies angebrochen, möchte man meinen: Niemals zuvor wurde soviel zugehört wie heute. Allein, es ist nicht so. Gehört wird Musik von Abba bis Zappa - die eigene CD-Sammlung, daneben Spotify, Pandora, Amazon, Apple, Google und wie die neuen Musikanten alle heissen. Aber Radio? Radiokunst? Hörspiel? Feature? Sendepause.

Das Radio, so scheint es, muss sich seinen Platz in den Kopfhörern dieser Welt erst wieder zurückerobern. Grandiose Hörstücke zu senden reicht da nicht mehr - neue Wege und neue Formen müssen her. In den USA boomen Podcasts und Audioserien, Soundslides und web documentaries finden ihr Publikum. Weil immer mehr Menschen der Dauerberieselung überdrüssig sind, haben Hörstücke gute Karten, die food for thought sind: Radio, das denken macht. Projekte wie A l'abri de rien oder Who Are the Champions?, deren Kern der Ton ist und die von leidenschaftlichen Radiomachern stammen, lassen hoffen: Das Feature, diese grosse Form der Vergangenheit, hat eine grosse Zukunft.

Thomas Weibel

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