Hans-Joachim Lenger

Was soll und muss Kulturradio leisten

Was muss das Kulturradio heute leisten. Von Hans-Joachim Lenger: Ein künftiges Kulturradio? Wie jedes Medium, so weist auch das Radio Merkmale auf, die es unverwechselbar machen. Es adressiert sich an das Hören und das Gehör. Wo sich das Sehen äuße-ren Dingen zuwendet, wo optische Medien wie Fotografie, Film oder Fernsehen das Sichtbare technisieren, widmet sich das Radio den Kulturen der Stimme, des Klangs, des Geräuschs. Dies ist seine Besonderheit, dies macht den Rundfunk ein-zigartig. In gewisser Hinsicht ist das Akustische nämlich nichts Äußeres. Es taucht im Innern des Hörers auf, der sich ihm aussetzt. Wo das Sehen auswendig ist, ist das Hören inwendig. Das Kulturradio wird von diesen Gegebenheiten ausgehen müssen. Im Rundfunk delegiert eine Gesellschaft ihr kollektives Gehör an ein technisches Medium, das im 20. Jahrhundert neue Kulturen des Hörens, neue Sinnlichkeiten, neue Sinne und ebenso neuen Sinn hervorgebracht hat. Darin besteht nicht nur die Verantwortung des Radios. Darin besteht, was man seine „Kultur“ nennen könnte. Im „Kulturradio“ hat sich die Gesellschaft ein Akustik-Laboratorium geschaffen, in dem sie mit der eigenen Sinnlichkeit experimentiert. Diskussionen um die Funktion des Radios gehen insofern von falschen Alternativen aus. Soll das Radio ein „Einschaltmedium“ sein – soll es also gezielte Programman-gebote machen, die der Hörer zu bestimmten Zeiten wahrnimmt? Oder soll es ein „Begleitmedium“ sein – ein Medium also, das den Hörenden im Grunde unbemerkt bleibt, doch umso stärkeren Einfluss auf ihre alltäglichen Stimmungen und Affekte nimmt? Viel eher müsste aber zuvor gefragt werden, worin die unersetzbaren Stär-ken des Radios bestehen. Nur so ließe sich bestimmen, welchen Platz es in einer multimedial verfassten Gesellschaft einnehmen müsste, die zusehends von Mediali-täten des Internet, von MP3-Playern oder Handys bestimmt wird. Nur so könnte das Radio nämlich unverzichtbar werden. Zweifellos wurden die medialen Geschwindigkeiten heute in unerhörter Weise ge-steigert. Unablässig stürzen Informationen, Bilder und Klänge auf die Mediennutzer ein und setzen sie dauernden Schocks aus. Immer kürzer werden die Botschaften, die auf diese Weise übermittelt werden, immer fragmentarisierter die Zeiten der Wahrnehmung, und immer nachhaltiger wird ihr Vermögen zerstört, Zusammen-hänge herzustellen. Dieser Entwicklung wird das Kulturradio Widerstand leisten müssen. Es muss eine perforierte Wahrnehmung aufgreifen und ihre Verletzungen durcharbeiten. Insofern aber wird sich das Kulturradio selbst ebenso Zeit geben müssen wie seinen Hörern. Wo es zum bloßen „Begleitmedium“ wird, begleitet es nur eine alltägliche Benommenheit, die von den Schocks einer medialisierten Kultur erzeugt oder hin-terlassen wird. Die technischen Möglichkeiten des Radios dagegen erlauben es, die Grenzen des Hörbaren zu erforschen und das Gehör zu sensibilisieren. Das Rund-funkstudio kann zum Laboratorium werden, in dem das Ineinanderspiel von Stim-men und Klängen erkundet wird. So macht es sich zum Forum der Reflexion, der unabgeschlossenen Fragen, zum Ort des Gesprächs und der Intervention. Es führt seine Hörer in die Abgründe einer Innerlichkeit ein, in der das Akustische immer neu auftaucht. Es lehrt seine Hörer, sich den akustischen Zumutungen zu widersetzen, denen sie alltäglich ausgesetzt werden. Es zeigt ihnen, wie dauerhaft ein Sprachbild sein kann, das sich den optischen Spektakeln des Alltags widersetzt. Es bringt die Tiefen der Musik, die Kraft der Stimme und die Vieldeutigkeiten des sprachlichen Spiels zu Gehör. Das macht es dann einzigartig. Einst sollte der Rundfunk der Bundesrepublik eine Gesellschaft, die aus dem natio-nalsozialistischen Regime hervorging, in demokratische Formen und Kulturen der Aufklärung einführen. Heute ist unklarer geworden, worin die gesellschaftlichen Aufgaben eines „Kulturradios“ bestehen. Weniger denn je ist „Kultur“ heute eine kohärente Größe. Sie zerfällt in vielfache Formen, Spielarten und Subsysteme, die kaum ineinander übersetzbar sind. Das „Kulturradio“ reflektiert diese Zerrissenheit der Formen, diese Vielfalt dieser Sprachspiele, in denen sich die Gesellschaft frag-mentarisiert und immer neu aufs Spiel setzt. Und insofern ist dieses Radio selbst Medium von Offenheiten, die sich durch übergeordnete Begriffe nicht bändigen las-sen. Es nimmt sich die Zeit, die Zerrissenheiten zu buchstabieren, denn es hat die Techniken dazu. Und so macht es sich unverwechselbar. Es ist höchste Zeit, sich dieser Unverwechselbarkeit zu erinnern. Dazu bedarf es des technisch-akustischen Laboratoriums ebenso wie des Bewusstseins, was „Kul-tur“ in einer medialisierten Welt heißt. Nicht zuletzt aber bedarf es der Experimen-tierfreude der Radiomacher. Hans-Joachim Lenger

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