Kino im Kopf

31.10.2015

Ich wollte nie ein Radiomacher werden. Ich war schreibender Journalist und basta. Am Ende kam das Radio zu mir wie die Jungfrau zum Kind. Selbst nach Jahren als Programmreferent des Schweizer Kulturradios wäre mir nie eingefallen, mich einmal selbst ans Mikrofon zu setzen. Zweierlei hat das geändert. Der eine Grund war der Programmchef, der fand, meine Stimme hätte Potenzial. Der andere war ein etwas missglücktes Konzept für einen Sendeschwerpunkt über das Verhältnis des Menschen zum Tier, genauer: zum Haus-, Lieblings- und Kuscheltier. Der Journalist in mir fragte etwas gereizt: Und was ist mit dem Tier, das wir auf dem Teller haben? Betretenes Schweigen. Um's kurz zu machen: Wer bald darauf zum Schlachthof trottete, war ich. Ich begleitete eine Kuh vom Tiertransporter in die Anlage hinein und etwas später als Rinderviertel wieder hinaus, Bolzenschuss und Todeskampf inklusive. Nach der Ausstrahlung des Beitrags lag kommentarlos eine offizielle Mikrofonzulassung auf meinem Tisch, die ich nie angestrebt hatte und der ich heute so manches verdanke.

Radio, so pflegten meine Kolleginnen und Kollegen damals immer zu sagen, ist Kino im Kopf - den Satz konnte ich schon nicht mehr hören. Bis ich eines Tages einem Rundfunkkollegen in Berlin von einem grossartigen Dokumentarfilm erzählte, den ich kürzlich gesehen hatte: "The Secret Chicken Society", ein berührender, ebenso heiterer wie nachdenklicher Film über irische Farmer, die ihre Hühner nicht zum Schlachten grosszogen, sondern um mit ihnen Schönheitswettbewerbe zu gewinnen.Ich erzählte von Farmerin Jenny, wie sie ihr flatterndes Lieblingshuhn auf dem Schoss hielt, wie sie es sorgsam duschte und fönte, von der stolzen, braunen Henne, die soviel Zuwendung sichtlich genoss und mit begeistertem Gackern quittierte, ich erzählte von der Stube mit den abgewetzten Sesseln und den geblümten Vorhängen, vom aufgeregten Gedränge im Hühnerstall bei der Fütterung, von der weiten Halle mit den vielen Käfigen, in denen die gehätschelten Hühnerschönheiten am Ende auf die finale Kür warteten.

Der Kollege hörte zu, anfangs belustigt, dann ernster, bis er schliesslich stirnrunzelnd fragte: "'The Secret Chicken Society'? Von Liam O'Brien?" - Ja, genau der. - Der Kollege musterte mich und meinte: "Was immer du da gesehen hast, ein Film war's jedenfalls nicht. 'The Secret Chicken Society' ist ein Radiofeature."

Thomas Weibel

PS: Natürlich hatte er recht, der Kollege. Aber ich könnte beschwören, dass ich die liebevoll herausgeputzte, gackernde und gurrende Henne mit eigenen Augen gesehen habe.

PPS: Habe ich ja auch. Kino im Kopf eben.

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