Alle suchen Nähe. Das „Deutschlandradio“ lädt die HörerInnen hinter die Kulissen zum heiteren Hörfunkraten ein und zwar „herzlich“: „Die neue Öffentlichkeit unserer Sitzungen sendet ein wichtiges Signal. Beitragszahlerinnen und Beitragszahler haben ein Recht darauf zu erfahren, wie die öffentlich-rechtlichen Sender mit den zur Verfügung stehenden Mitteln umgehen.“ (Frank Schildt, Vorsitzender).Tiefschürfende Erkenntnisse! Überhaupt, wie sollten die Anstalten schon mit ihren Mitteln umgehen? Vielleicht wie Radio Eins, da geht gerade nichts ohne Promis: „Sandra Maischberger, Anne Will, Caren Miosga, Frank Plasberg, Kai Pflaume, Jörg Pilawa, Denis Scheck und viele andere kommen im Herbst zu Radioeins vom rbb“ - lauter showacts, die ihre TV-Rolle gegen eine im Radio tauschen. Auf Zeit.
Da lacht die Quote, keiner, der mehr Angst hat, daß das Fernsehen demnächst das Radio ganz platt macht, nein, wir sind alle Radio Eins! Und prominent genug. Was mich wiederum daran erinnert, daß wir uns einst in die gute alte Tageszeitung „taz“ (die sich immerhin einmal pro Woche 60 Minuten lang popkulturell auf byteFM präsentiert) immer wieder mal Schriftsteller (von Schlesinger bis Enzensberger) eingeladen haben, die für eine Woche zu eigensinnigen Blattmachern wurden. Spannend war das, extrem lesenswert und verdammt aufschlußreich. Eigentlich etwas, was den hörbaren Anstalten gut täte: Experimente mit einem Rollentausch, der dann vielleicht doch eine Lösung ist. Keine Formatierung, Eigensinn ist die Lösung! Tanja Dückers, Heinz Strunk, Gerhard Seyfried, Judith Hermann, Frank Schätzing, Lothar Dombrowski und Leon de Winter würden bestimmt ein prima Programm machen. Hat Martin Walser schließlich auch geschafft! Gehörte er nicht in den 1950ern zur „Genietruppe“ des SDR und sorgte für jede Menge „Szene“ und Nachwuchs im Sender? Es gibt bis heute viel aus der Geschichte des Radios zu lernen: Zum Beispiel nicht jedem kurzhosigen Trend nachzulaufen, sondern eigene muntere Trends zu schaffen. Geschichten erzählen! Erzählen lassen. Geschichte machen. Zur Welt hin glühen!
Womit wir wieder bei meinen eigenen „Radio-Days“ sind. Bei meinem alten „Andante S“, auch bei der neuen Phonotruhe, auf deren Plattenspieler ich die alten Schellackplatten von meinem Vater abspielte (mit 78er-Geschwindigkeit), wenn das Radio mal nichts zu bieten hatte. Doch, sorry, das kam selten genug vor: "Schnellinger wirft auf Vollmar und wieder zurück, die deutsche Mannschaft sollte sich umformieren und Vollmar endlich einmal Blickpunkt in Angriffsrichtung nehmen und nicht nur zurückspielen....."(Rudi Michel)
„Fussball! Immer nur dieser verdammte Fussball!“ - Meine Mutter hielt es damals zu Hause einfach nicht aus: Verfluchter Nachkrieg! Immer dieser besoffene Vater. Immer nur Streit. Und immer diese betrunkenen Männer vor dem Radio. In unserem Wohnzimmer. Also floh sie mit meinem kleinen Bruder zu Oma Frieda. Immer wieder. Ich aber blieb allein mit dem „Alten“ und seinen Kumpanen. Und dem Radio. Alle lauschten gespannt der Reportage, tranken dazu Bier aus braunen Flaschen und rauchten Ernte 23 oder auch HB. Und wenn ein Tor fiel, durfte ich eine Runde Schnaps in die bereitgestellten Gläser gießen: "Schnellinger bleibt Sieger im Zweikampf, schlägt dann sehr schön nach innen. Erhardt ist am Ball, am Strafraum der Jugoslawen , die ihre Abwehr formiert haben, ....we Seeler, Schuß....Pfostenschuß und Tor!!!!!!"
Wenn so ein Tor fiel, jubelten alle: Rudi Michel, die Zuschauer im Radio, mein Vater und seine Stammtischbrüder. Alle machten einen Heidenlärm. Also fiel nicht weiter auf, daß ich gar nicht mitlärmte, sondern eher darüber staunte, daß es mein Radio war, das all die Kumpanen, die da mit ihren Bierflaschen in der Hand auf unseren Stühlen saßen, jubeln ließ: trinkende Kohlenhändler, Klempner, Bankangestellte oder eben „Weinhändler“, wie mein Vater, ...das waren die Männer meiner Kindheit. Irgendwie hielten sie zusammen, riefen: Einer geht noch rein! ....und ich wollte einer von ihnen werden. Oder vielleicht doch besser Kapitän? In einer schmucken Uniform die sieben Weltmeere befahren!? Richtung Amerika!, wie dieses Schiff, damals im Radio, dessen Sirenenton mir nie verloren ging: "Auf Wiedersehen BREMEN, gute Fahrt!"
Vielleicht könnte ich auch als blinder Passagier mitreisen. Später mal. Jetzt aber wollte ich nur eines: nicht mehr diese Angst haben. Immer hatten die Eltern Streit, drohten sich gegenseitig mit Scheidung, es klirrte und krachte. Doch manchmal vertrugen sich die Beiden auch, machten sich fein und zogen gut parfümiert Richtung Stadt: zu einer Geburtstagsfeier vielleicht, in eine Bar, ins Kino oder sonstwohin: "Paß bloß auf Deinen Bruder auf!", mahnten sie mich dann. Thomas schlief in seinem Gitterbett meistens schnell ein.
Dann konnte ich endlich wieder ins Wohnzimmer, vor's Radio. Machte aber aus Vorsicht kein Licht an, ließ allein das magische Auge und die Senderskala leuchten und lauschte fremden, geheimnisvollen Gesängen aus fernen Welten, die sicherlich aus anderen Zeiten stammten - aus der von Robinson Crusoe und seinem Freitag vielleicht: „Gesänge aus Madagaskar“, an die erinnere ich mich noch genau. Weit trugen sie mich fort. Mit geschlossenen Augen lag ich auf dem Teppich und lauschte in die weite Welt hinein. Selten war ich glücklicher.