Radio Days (5)

23.10.2014

„Ich war nämlich drei Jahre weg in Russland, und gestern kam ich wieder nach Hause. Das war das Unglück. Drei Jahre sind viel, weißt Du. Beckmann, sagte meine Fau zu mir, einfach nur Beckmann. Und dabei war man drei Jahre weg. Beckmann sagte sie, wie man zu einnm Tisch Tisch sagt. Möbelstück Beckmann. Stell es weg das Möbelstück Beckmann!“(Wofgang Borchert: "Draußen vor der Tür") Als ich, fast ein Kind noch, aus dem Radio meiner Großmutter Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“ hörte, spürte ich tief drinnen zum ersten Male, daß es ganz sicher noch mehr Leid gab als in unserer kleinen Familie, noch viel mehr Ach und Weh! als in unserer kleinen Stadt. Da war ein mächtiges, unermessliches Leiden in der Welt, das größer war als wir alle und bestimmt auch bis in dieses verrückte Berlin reichte, von dem Oma Frieda mir immer soviel erzählte: „Irgendwann gehst Du weg von hier! Und dann wartet Berlin auf Dich!“ Das prophezeite sie mir. Immer dann, wenn ihre Schwester zu Besuch kam. Gertrud aus Berlin. Eine kleine Frau mit dicken Brillengläsern, die immer laut war und viel lachte. Und ich stellte mir Berlin vor: das gelobte Land. Ich würde bei meiner Großtante wohnen, hoch oben im vierten Stock im Bayerischen Viertel und dort die Schule zu Ende machen. Ohne Prügel, ohne Angst. Und wieder mit einem eigenen Radio im Mansardenzimmer. Doch daraus wurde nichts, verkündete eines Tages der Nachrichtensprecher. Alle saßen vor der Phonovitrine. Starr vor Angst: „Schwerbewaffnete Einheiten der Volksarmee und der Volkspolizei der Sowjetzone haben in der Nacht Westberlin gegen die Zone und den Ostsektor abgeriegelt. Kein Bürger der Sowjetzone kann noch unkontrolliert nach Westberlin gelangen. Ostberlin bietet das Bild einer Stadt im Ausnahmezustand.“ Nur gut, daß unter der Wohnung meiner Eltern ein Luftschutzkeller war. Auf einmal sah ich rauchende Trümmer, hörte das Wummern der Fliegerabwehr, von der mein Vater erzählt hatte, und überall Leichen: „Wenn bloß nicht die Russen kommen!“, flüsterte meine Großmutter. Alle hatten Angst. Alle rauchten Kette. Niemand ging mehr fort vom Radio. Zwei, drei Tage blieben wir in der Wohnung meiner Eltern. Alle gemeinsam. Nicht einmal zur Schule musste ich gehen. Und Willi Brandt sagte im Radio auch Warum: „Die Sowjetunion hat ihrem Kettenhund Ulbricht ein Stück Leine gelassen!“ Doch der Russe kam nicht. Auch kein Kettenhund. Also ging ich mit Oma Frieda wieder nach Hause, weiter zur Schule, auf’s Gymnasium, bekam immer wieder mal Besuch von Vater und Mutter und lud am Nachmittag meine Schulfreunde, auch ältere, in meine kleine Dachkammer ein. Zusammen saßen wir vor der kleinen Philetta und hörten im „British Forces Network“ Sounds, die nichts mit Zuckerpuppen, Bauchtanztruppen und dem berühmten „Mann am Klavier“ zu tun hatten. Irgendetwas Neues bahnte sich an: „Twist and shout!“ Draußen auf der Straße trugen die größeren Jungen Lederjacken, spuckten verwegen in den Rinnstein und fuhren knatternde Mopeds - „Halbstark“ nannte man die. Zwar war ich in den frühen 60er-Jahren noch nicht ganz so halbstark, konnte mir auch keine Blue Jeans leisten, aber es gab Hoffnung: Oma Frieda hielt zu mir, das ummauerte Berlin wartete auf mich und irgendwann würden all die, die uns Schweigen und Untertanengeist verordnet hatten, ihre Quittung bekommen. Denn eines Tages würde ich mich wehren. Vielleicht sogar gemeinsam mit den Vielen, denen es damals nicht anders ging als mir. Darüber würden auch die Stimmen im Radio berichten, da war ich mir sicher. Und das haben sie dann auch getan.

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