Das Radio entfesseln
Audio-Programme bieten Orientierung und Struktur
„Ein Heulen kommt über den Himmel. Das ist früher schon geschehen, mit diesem aber lässt sich nichts vergleichen.“ Und die A 38 bei Halle in Sachsen-Anhalt Richtung Westen, ziemlich frei, Sonntagnachmittag. Es wurde ein ungeplantes und unbeabsichtigtes Experment: Rund fünf Stunden Autofahrt lagen vor dem Fahrer und er hatte sich vorgenommen, „Die Enden der Parabel“ von Thomas Pynchon zu hören. Ein phantastischer Roman als phantastisches Hörspiel. Eines von den fünf Lieblingsbüchern, die man auf die berühmte einsame Insel mitnimmt.
Auch rund 100 Jahre nach seiner Erfindung und nach unzähligen Häutungen und Veränderungen kann Radio weiter zu uns durchdringen. Durch die Ohren in den Kopf, in die Seele und in den Körper. Die Töne, Geräusche und Stimmen nehmen ein, ziehen Aufmerksamkeit auf sich, lassen sich nicht abschütteln oder ignorieren als kaum wahrnehmbares Begleitgeräusch. Physik trifft auf Mensch, mit weitreichenden Folgen. Inszenierung trifft auf Mensch, und das ist tatsächlich besonders auffällig.
Nora Gomringer hat in ihrer wunderbaren Liebeserklärung an das Radio treffend bemerkt: „Das ist die Stärke des Radios, denn es beteiligt und ist doch ein höchst künstlerisches Medium. In seiner Künstlichkeit kann es Räume eröffnen, in denen Kunst ernst genommen wird und ästhetisches Urteil sogar Folgen hat.“
Die Digitalisierung und der technologische Fortschritt haben vor allem die Medienwelt und damit auch unser Verhältnis zur Welt insgesamt verändert.
„Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“, schrieb Niklas Luhmann 1995. Diese Entwicklung ist ambivalent und spürbar vielschichtig. Auf der einen Seite kommen wir dem alten Traum von der globalen Kommunikation immer näher. Erinnert sich noch jemand daran, dass einst Zeitungen aus den USA erst ein paar Tage später bei uns in Europa ankamen? Oder dass es bei großen Ereignissen oder gar Katastrophen in fernen Ländern viele Tage bis Wochen dauerte, bis uns Bilder, Töne und Informationen erreichen konnten?
Die sozialen Netzwerke, die mit ihrer Schnelligkeit und Aktualität eine künstliche Nähe erzeugen, haben diese Bewegung beschleunigt. Wir haben alle das Gefühl, dass wir weltweit verknüpft sind. Welchen Blick sich die weltweite Community auf diejenigen gönnt, die wegen ihrer Lebensumstände, ihrer Armut oder auch wegen der in ihrem Leben herrschenden Repression und Zensur abgehängt sind, das ist eine andere Frage.
Das große globale Kommunizieren, das große digitale „Wir“ stellt aber auf der anderen Seite die Frage nach dem digitalen „Ich“. Ich bin der Mittelpunkt meines Kommunikationsnetzes, alle Informationen fließen in meinem PC oder Smartphone zusammen, ich bin der Knotenpunkt der unterschiedlichen Schalt- und Funkkreise. Die Fülle der Informationsangebote fordert Ordnung und Überblick. In dieser Dialektik zwischen global und individualistisch muss jedes Medium seinen Platz suchen.
Das Radio wirkt deshalb nur auf den ersten Blick anachronistisch und überholt. Seine linearen Programme sind auch Ordnungsangebote, Sortierungen, die durch ihre Struktur, Dramaturgie und Inszenierung Einordnung und Orientierung ermöglichen. Gerade in der Pandemiezeit, in der der Alltag und der Tagesablauf der Menschen durcheinandergerüttelt wurden, Arbeit, Schule und Lebensvorsorge aus ihrem gewohnten Rhythmus kamen, war das klassische Radioprogramm mit seinem strengen Nachrichtengerüst, seiner jeweils eigenen Musikfarbe, seinen vertiefenden Informations- und Unterhaltungs- formaten ein wichtiger persönlicher und vertrauter Tagesbegleiter.
Die harschen Reaktionen auf (vorübergehende) Änderungen vertrauter Programmschemata in der Corona-Zeit verraten, dass das täglich gewohnte Programmangebot als eigenes und ganz persönlich abgerufenes Angebot wahrgenommen wird. Klar, das Programm wird von anderen gemacht, aber seinen Sinn bekommt es erst im Moment des Hörens.
Die digitalen Audioangebote über Audiotheken oder an- dere Plattformen verstärken diesen persönlichen Fokus. Playlists, die eigenen Podcast-Abos, die Empfehlungen mit Lieblingssendungen, Meistgehörtem und Meistgeschätztem verbinden sich zu einem sehr persönlichen Audioprogramm, dessen Kompilator der einzelne ist. Gesprochenes Wort und Töne haben es bisher sehr schwer in der Welt der Suchmaschinen, in der die Audio-Erkennung schlicht nicht vorgesehen war und ist.
Fieberhaft arbeiten Sender und Wissenschaft an Algorithmen und Metadaten. Wir Öffentlich-Rechtlichen müssen dabei besonders beachten, dass die Logik unserer Algorithmen nicht die platte Spiegelung der bisherigen Mediennutzung und Themenpräferenz sein kann. Wir dürfen keine neuen Echoräume entwickeln, in denen die Hörerinnen und Hörer immer und immer wieder auf sich zurückgeworfen werden.
Aber in der Personalisierung der Audioangebote liegt die Zukunft. Für sensible Gemüter nicht immer auf subtile und zurückhaltende Weise, der personalisierte Medienmarkt ist laut, penetrant und aufdringlich. Daneben wird auch das persönliche Kuratieren immer wichtiger, die transparente und beratende Unterstützung bei der Auswahl. Noch ist die Tatsache aber in den Redaktionen nicht tief verankert, dass die Journalisten dem Publikum ihre Texte und Audios auch näherbringen müssen.
Radio und Audio haben in dieser globalen Welt der Kommunikation aber noch einen weiteren Trumpf. Sie haben eine lange Erfahrung in Sachen Dialog. Das Miteinanderreden ist auf dem digitalen Audio-Weg einfacher als der Austausch von Meinungen auf den Leserbriefseiten oder die kurzgehaltenen Aussagen vor den Kameras. Dass Fernsehen nahe am Menschen ist, ist eine gewagte Behauptung. Die Hemmschwelle, sich öffentlich zu äußern, ist bei denen, die solche öffentlichen Diskussionen nicht gewohnt sind, im Radio wesentlich niedriger. Obwohl die Stimme selbst sehr persönlich ist, fühlen sich Gesprächspartner vor dem Mikrofon des Hörfunks geschützter.
Bis diese reiche „Partizipationserfahrung“ tatsächlich für die digitale Welt erschlossen wird, ist es noch ein weiter Weg. Aber es wäre eine Chance, das mediennutzende Individuum und die globalen Netzwerke auf kreative Weise zueinander zu bringen. Nichts völlig Neues. Der polnische Schriftseller Tadeusz Peiper schrieb 1927: „Durch das Radio hat sich in der Welt der Maschine ein Platz aufgetan für eine Welt, in der man für sich sein kann ... Der Kopfhörer macht aus dem Radioapparat die Maschine der Träume ... Die Einsamkeit des Rundfunkhörers wird mit dem gesellschaftlichen Bewusstsein gekoppelt.“
Es gehört zu den Mirakeln und Abstrusitäten mancher medienpolitischer Vorstöße, gerade in dieser medialen Gegenwart das Fusionieren oder die Abschaffung von öffentlich-rechtlichen Hörfunkprogrammen zu fordern. Wir kennen diesen Typ „Medienexperten“ aus Parteien, Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaft, der die Schimäre einer uferlosen, redundanten und höchst überflüssigen Flut beitragsfinanzierter Radioprogramme beschwört und dann meist die Abschaffung der Programme fordert, die er selbst nicht hört.
74 öffentlich-rechtliche Programme und 274 private gibt es in Deutschland, jedes Angebot hat sein Publikum, und da jeder den Rundfunkbeitrag zahlt, hat auch jeder mit Recht Anspruch darauf. Immer wieder hat das Verfassungsgericht die Bedeutung von Vielfalt und publizistischem Wettbewerb gerade für den demokratischen Diskurs betont, besonders für den öffentlich-rechtlichen Sektor.
Lange Zeit war die begrenzte Zahl der reichweitenstarken UKW-Frequenzen das Nadelöhr für neue Radioideen. DABplus und das Internetradio erweitern nun den Zugang für den Radiomarkt für Öffentlich-Rechtliche und Private. Bei beiden ist das Bewusstsein inzwischen sehr ausgeprägt, dass die Zukunft nicht durch Verdrängung oder gar Abschaffung der Konkurrenz, sondern nur durch eigene Programmideen und besonders spannende Angebote gesichert werden kann. Da ist die Branche selbst um Meilen weiter als der eine oder andere „Experte“ oder Wettbewerbsökonom. Und weil Radio und Audio ein sehr viel jüngeres Publikum erreichen, ist Vielfalt und Kreativität an dieser Stelle auch sehr hilfreich, um gerade die unter 30-Jährigen mit zeitgemäßen Audioformaten anzusprechen und für das Gesamtangebot eines Senders zu gewinnen.
Nicht überall in den Sendern ist das Bewusstsein besonders ausgeprägt, welche Bedeutung gerade Audio und Radio für die Relevanz des Gesamtportfolios hat. Radio und Audio sind mehr als Distributionswege zweitverwerteter O-Töne.
So ist das bei den gegenwärtigen Mediendebatten: Man startet mit der Faszination der wunderbaren neuen und alten Medien und landet im Wettbewerbsrecht. Es ist eine gefährliche und unwürdige Entwicklung, die mediale Gegenwart nur noch in abstrakt-ökonomischen und regulativen Dimensionen zu diskutieren, von der fahrlässigen Einschränkung der Presse- und Rundfunkfreiheit mal ganz zu schweigen. Der knallharte ökonomische Kern von Google, Facebook oder Amazon darf nicht davon ablenken, dass deren großer globaler Erfolg durch die Verheißung von Träumen und deren Erfüllung gefördert worden ist, jeden Tag und immer wieder.
Radio und Audio haben die Substanz, die Erfahrungen und die kreativen Möglichkeiten, Menschen zu erreichen, zu begeistern, zu berühren, ihnen auf fundierte Weise Orientierung anzubieten und auch in ihre Traum- und Wunschwelt hineinzuwirken. Die Kraft des Radios gilt es immer wieder zu entfesseln, bei allen Risiken und Nebenwirkungen, auch zwischen den Enden der Parabel.