Radio muss frei bleiben!

Schorsch Kamerun

Ich erzähle immer Stories. Mir geht es immer um Themen. Ich habe den Wunsch, etwas beizutragen, mich einzumischen, zu intervenieren. Dazu ist das Radio, das Hörspiel ein  passendes Feld. Ich arbeite zwar auch mit Collagen und experimentiere mit Formen,  aber darunter  geht es ganz unbedingt um das Thematische. Und  Radio ist hierfür eine von mehreren Möglichkeiten öffentlich zu werden . Das passiert aber  genauso mit dem Golden Pudel Club, wo wir sagen, wir machen den ganz eigen, anders als andere; oder unsere Band, die Goldenen Zitronen, die es gewollt anders macht als eine andere. Das gilt für mich auch fürs Theater, die Oper. Die Formen wechseln, aber es geht immer um die Themen. Deshalb sind meine Auftritts- und Kunstformen wie Club, Band, Theater, Schreiben und Rundfunk vergleichbar. Ich darf das ja sagen, weil ich switche stark zwischen den Äußerungen und das in der Regel mit vergleichbaren Inhalten. D.h, die Themen unserer Punk Band, die vollkommen autonom ist, also komplett independent, kommen in meinem Fall genauso im öffentlich-rechtlichen Radio vor wie im Stadttheater. Ein Text, den ich mit der Band bei der „welcome to hell“ Auftaktveranstaltung zum unsäglichen G20 meeting singe, kann vorher bei einem Theaterstück entstehen und er kann danach in einem Hörspiel im öffentlich-rechtlichen Radio vorkommen.

Eigentlich bin ich Schlager-sozialisiert. Meine Mutter hörte den ganzen Tag Radio. NDR 2 war ihr Sender. Das beeinflusste auch mein späteres Songwriting stark. Einerseits habe ich so eine Schrägnis entwickelt, die ich mir gesucht habe, und andererseits gibt es Fragmente von aufgeführter banaler Enge, von Schlager-Sehnsucht in meinen Arbeiten. Und dann gab es noch meinen Stiefvater, der hörte eine Mischung aus Operette, Volkslied und Marsch, möglichst bizarr, besonders die Inhalte: „Oh kaffebraun  sind alle Frau’n in Kingston Town“. Das Radio lief eigentlich immer und hat mich geprägt. Es lief aber nie das, was ich mir ausgesucht hätte. Das kam erst später mit dem eigenen Radiorekorder, diesem technischen Freund. Ich habe dann meine Musik entdeckt und aufgenommen, und mir selbst so etwas wie eine playlist zusammengestellt. Hörspiele, überhaupt Wortsendungen hörten wir eigentlich alle nicht. Erst später  habe ich den Deutschlandfunk für mich entdeckt.  

Ich bin ein super quereingestiegener Voll-Autodidakt. Ich gehe extra naiv an die Dinge heran. Ich kannte eigentlich kein Theater, bevor ich es selbst Theater machte. Ich war bis dahin ganze zwei Mal im Theater, davon einmal auch nur wegen der befreundeten Einstürzenden Neubauten, die bei einem Peter Zadek Abend im Hamburger Schauspielhaus mitmachten.  Das andere Mal war ich auf Klassenfahrt nach Berlin im Theater: "Der zerbrochene Krug". Richter Adam – für mich: grausam, jedenfalls die Aufführung. Seit 20 Jahren mache ich nun selbst Stücke, auch in Opernhäusern.  Und auch da bin ich natürlich erst mal auf eine Art ungebildet.
  "Das kannst auch Du" hieß ein Düsseldorfer Punk-Label, das genau den Zugriff formulierte, der mir als Fünfzehnjähriger vorschwebte: alles einfach selber machen. Erst die Themen bestimmen und dann die Form dazu zu finden. Als ich angefangen habe, eigene Sachen zu formulieren, ging ich immer absolut autodidaktisch vor. So kam ich zur Musik, zu meiner Band "Die goldenen Zitronen",  zum "Golden Pudel Club" und zum Theater, auch zum Hörspiel. Unserer Band waren die "genialen Dilettanten" sympathisch. Aber wir sind es eben selbst schon lange nicht mehr. Ich glaube, irgendwann ist man kein Dilettant mehr. Das Kokette daran muss gestrichen werden, wenn man viel Praxis hat.

Beim Hörspiel erging es mir ähnlich. Die Dramaturgin Martina Müller-Wallraf vom WDR hat meine "Hollywood-Elegien" auf der Ruhrtriennale gesehen und fand meine Inszenierung sofort Hörspiel-tauglich. Selbst wäre ich nicht darauf gekommen. Aber sie hat es genau richtig gesehen, weil ich in der Theaterform wie auch bei der Oper oder im Musiktheater eigentlich immer Inhalte vertone. Ich denke vom Film her. Ich inszeniere Settings und vertone sie dann. Und genau so hat sie das auch begriffen, dass das, was ich da auf die Bühne brachte, eigentlich eine Eisler-, Brecht-Vertonung war verbildlicht in einer Situation in einer riesigen Industrie-Halle. Wir hatten uns mit Migrationsursachen und Exil auseinandergesetzt, Themen, die in den Hollywood Elegien vorkommen

Was ich fürs Theater entwickelt habe, konnte ich dann noch mal fürs Radio, fürs Hörspiel neu denken, in eine andere Aufführungsform bringen. Es gibt zwar Teile, die aus dem Theater kommen, von der Band oder woher auch immer, aber es entsteht im Radio jedesmal etwas ganz anderes.  Dabei habe ich für mich eine neue Arbeitsweise entdeckt. Für die Aufnahme und die Produktion bin ich stets alleine zuständig. Die Sachen, die ich sonst mache, entstehen dagegen sehr kollektiv. Im Theater wünsche ich mir, dass jeder, jede am Ende auch live mitmacht, am liebsten auch Technik, Souffleuse, eben alle. Beim Hörspiel ist das intimer. Ich kann mich ganz anders und mit weniger Druck meinem Ziel nähern. Das hat ein bisschen was von der Arbeit in einem Elfenbeinturm. Dafür läßt sich eine feinere Konzentration entwickeln. Und genau so empfinde ich auch das Hören von Hörspielen, ausschließlich konzentriert. Also wenn du ein Hörspiel wirklich ernst nehmen willst, musst du unbedingt zuhören. Das läuft schlecht nebenher, finde ich.

  Als Mäzen habe ich das Radio nie gesehen. Ich könnte in der Zeit, in der ich an einem Hörspiel arbeite, auch etwas anderes machen. Das hängt von der Auftragslage und meinen Ideen und Launen ab.  Meist werde ich von einem Medium ins andere abgeholt. Fast alle meine Hörspiele sind nach einer Produktion fürs Theater entstanden. Bis auf "M -Eine Stadt sucht einen Mörder" letztes Jahr. Ich wollte aus dem Film von Fritz Lang und Thea von Harbou in München für das Residenztheater eine begehbare Konzert-Installation entwickeln. Das ging aber wegen Corona nicht. Deshalb haben wir zunächst ein Hörspiel für den BR daraus gemacht. Dabei hat mir natürlich geholfen, dass ich das autonom Produzieren mittlerweile gewöhnt bin. Nur musste ich mit den Schauspielerinnen alles per Video-Call aufnehmen. Und das hat auch wirklich etwas Falsches, weil eigentlich lebt mein Zeugs vom Gegenübersein, von Sozio-Atmosphären, von Stimmungen, dem Einlassen auf Beziehungen. Und das wird bei Zoom-Konferenzen nahezu gekillt. Trotzdem: die entstandenen Aufnahmen erzählen jetzt zusätzlich genau von diesem speziell  Falschen.

Bis auf diese Ausnahme kamen die meisten Impulse immer aus unseren Inszenierungen, filetiert und weiterentwickelt. Bei meinem Theater-Dasein verhielt es sich ähnlich, was das Anschieben anging. Da war es die Dramaturgin und Festivalleiterin Stefanie Carp, die so wichtig ist im deutschsprachigen Theater, die mich auch abgeholt hat, weil sie etwas in meiner Arbeit gesehen hat, was ich selber nicht gesehen habe. Ich kann sagen, dass ich ohne diese beiden weitsichtigen Mentoren wahrscheinlich weder Hörspiel noch Theater noch Oper gemacht hätte.  

Mit dem Hörspiel erreicht man sein Publikum auf eine  andere Weise als auf der physischen Bühne. Es ist eine sehr temporäre Angelegenheit. Wenn ich mit der Band z.B. eine Platte herausbringe, dann erhalten wir ziemlich viele Reaktionen. Die popkulturelle Welt ist eine ziemlich auffällig verstärkte. Wenn wir live auftreten, dann spielen wir manchmal vielleicht vor doch gar nicht so vielen Leuten in einer Stadt. Trotzdem gibt es danach einen Artikel im Feuilleton, große Resonanz also. Die ist mal gut und mal schlecht, aber doch sehr präsent. Und das, obwohl wir physisch gar nicht so viele Leute direkt vor der Nase hatten.

Im Hörspiel ist das anders. Es gibt diese eine Ausstrahlung, und es gibt durchaus Hörerschaften dafür, aber man kriegt das nicht so direkt mit. Es gibt kaum Rückmeldungen. Als jemand, der sich auf Bühnen stellt, bist du natürlich ganz andere auch direkter Reaktionen gewohnt.

Dabei denke ich bei meinen Sachen eher nicht vom Publikum her. Ich will etwas sagen und bin dann abhängig davon, ob man mir Möglichkeiten bietet, etwas mitzuteilen. Als Musiker können wir immer sagen, wir bringen irgendetwas raus, egal, wer das dann abnimmt oder nicht. Dennoch ist man als Künstler auch abhängig von Empfängern. Ich versuche diese Abhängigkeit so gut es geht auszublenden und habe bis jetzt das Glück gehabt, oder vielleicht auch das Engagement gezeigt, dass ich diese Möglichkeiten, meine Themen, Inhalte und Formen  auf verschiedene Weise zu transportieren, auch bekomme. Maul aufmachen geht immer.

Im Kontext der anderen Medien, für die ich arbeite, halte ich das  Radio für  wichtig. Es ist eine der zentralen Stimmen , die Gesellschaft kritisch beleuchten und sehr bemerkbar intervenieren kann. Und ich glaube, dass das eine Bedeutung hat, die auch wahrgenommen wird. Es hat eine Strahlkraft, die stärker ist, als man zeitweise annimmt. Und es ist im Wettstreit mit anderen Medien bisher noch vergleichsweis frei, in dem was es sagen darf. Experimentierfreudig  ist es auch. Wenn man sich davon leiten lassen will, dass Radio einen Bildungsauftrag haben soll, dann muss es wenigstens, wenn es schon noch so luxuriös ausgestattet ist, solche Freiheiten bieten. Das, glaube ich, ist das Allerwichtigste. Alles soll erlaubt sein. Wenn es ein Hörspiel geben soll,, das keinen einzigen Ton enthält, dann muss das okay sein. Stille kann stärkste Aussage sein. Daher glaube ich, es ist das Wichtigste, dass Radio frei bleibt und radikal ausprobieren darf.

Daran ändert auch die Podcast-Konkurrenz erst einmal nichts, scheint mir. Ich finde Podcasts erst mal eine gute Erweiterung, weil sie zusätzliche Möglichkeiten bieten, sich zu äußern. Der Ansatz ist demokratisch. Aber was kann der Internet-Auftritt mehr? Einerseits kann jeder irgendwie alles machen, andererseits kann das natürlich auch zur Beliebigkeit führen. Für die Podcaster führt das möglicherweis in eine prekäre Lage, weil sie teils ohne einen Auftrag auskommen müssen, der ihnen einen garantierten Gegenwert schafft.

Aber ich habe eigentlich auch immer so gearbeitet: wenn etwas nicht mehr läuft, mache ich es trotzdem oder eben etwas anderes. Im übrigen sind Podcasts etwas Weiteres, sie ersetzen das Radio nicht. Das ist ähnlich wie mit Vinyl-Schallplatten. Die gibt es ja auch noch, trotz Spotify, das immer Zugang zu fast allem bietet. Ich mag Vielfalt, Großes und Kleines, Lautes und Leises, Glamouröses und Reduziertes. All das wird auch anders gesehen. Ich weiß um das Ringen auch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, dass er sich nach Einschaltquoten und Klickzahlen richten soll, in Netzplattformen überführt oder ganz abgeschafft werden. Aber für die demokratische Vielfalt, wenn man sie ernst nimmt, ist die jetzige Rundfunklandschaft unverzichtbar.

Unsere Gemeinschaft kann sich überlegen, was sie haben, was sie fördern will. Das gilt auch für Theater, Clubs, Film oder Museen. Ich weiß, dass man das kritisieren kann. Umgekehrt kritisiere auch ich Autoritäten immer wieder für das, was sie tun. Und trotzdem werde ich von denen sogar beauftragt, profitiere davon dass sie auch meine kritische  Kultur fördern. Dass das geht, halte ich für eine Errungenschaft. Es ist ein besonderer Wert! Aber diese Balance kommt nie wieder, wenn man sie zurückdreht und an ihr spart.

Gerade diese Freiheit des öffentlich-rechtlichen Radios, die Idee und die Möglichkeit des Ausprobieren-dürfens, des Experimentierens gerade im Hörspiel, aber auch im Feature, das ist unglaublich wichtig. Radio hat überhaupt eine ganz wichtige Bedeutung für das kulturelle Zwischen- und Miteinander. Und damit auch für seine gesellschaftliche Rolle. Unterschiedliche Standpunkte von unterschiedlichen Menschen können gleichberechtigt aussagen. Es ist nicht nur entscheidend was gesagt wird, sondern dass es formal Alle können, gewünscht und ungebremst. Bin ich Politiker, ist es schwierig zu sagen: "sofort alle Grenzen auf!". Diese Verantwortung lässt sich kaum erzählen. Aber als politischer Künstler darf ich das, mache ich das. Ich bin aufgefordert, radikal zu sein. Weil Kultur radikal denken und erzählen muss. Ich bin politisch engagiert und versuche, Dinge durchzusetzen. Aber natürlich aus einer anderen Stellung heraus als ein Politiker. Ich mache freie Kunst, bleibe Apo – und das ist gut so.