Lineares Radio
So wird es nicht weitergehen. Bei den Jungen kann man es sehen. Musik für ihre Peergroup finden Jugendliche heute online, ebenso die richtigen Informationen im richtigen Tonfall. Ab und zu taucht da noch eine Nase aus den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten auf, am häufigsten Jan Böhmermann, der nicht müde wird, den Untergang von ARD und ZDF auf das Jahr 2020 zu datieren. Deutlich häufiger ist es der umgekehrte Fall: Ein Youtuber wird für einen Gastauftritt im Jugend- oder Kulturradio engagiert, damit die Jugend mal im öffentlich-rechtlichen Sektor vorbeischaut.
>Stippvisite<, sehe ich in solchen Fällen meinem Sohn an, gleich ist er wieder weg, zurück in seine Sphären. Ja, er hat zumindest eine Ahnung, dass seine Sphären Filterblasen sind, die ihm Vieles vorenthalten. Aber zwischen Youtube, Computerspiele-Foren, Chat und Whatsapp fühlt es sich für ihn richtig an, hier findet er seine Sprache, seinen hochspeziellen Interessenmix, und vor allem: ER ist Herr des Programms, nicht irgendein alter Herr, der ihm freundlich erklären will, was gut für ihn sei. »Ich schalte einfach mal das Radio an«, oder: »heut abend schauen wir fern«, sowas kennt mein 14-jähriger Sohn nicht. Einfach hinsetzen und warten, ob die was für ihn haben? Wieso sollte man, wo man sich doch selbst seine Inhalte so zielsicher holen kann?
Diese Haltung mag sich später ändern. Dass das Radiohören in der Jugendzeit auf einen Tiefpunkt sinkt, ist schon länger beobachtet worden. Nach dem Studium und noch mehr mit Gründung einer Familie und ganz anderen Tagesabläufen als davor, finden so Manche und Mancher zum Radio zurück. Aber eine ganz heikle Frage ist: Wer sich die ersten 15 Jahre seines Medienkonsums daran gewöhnt hat, sich sein Programm selbst zusammen zu stellen, will der sich nochmal umgewöhnen?
Wenig, ist meine Vermutung. Mindestens ein Stück Autonomie über die Auswahl der Inhalte wird es in Zukunft geben müssen. Vielleicht kennen Sie den Effekt, den ich manchmal nach dem Hören von Podcasts habe: Wenn ich beim Fernsehschauen die letzten Sekunden abgelenkt war und etwas Interessantes verpasst habe, zuckt meine Hand nach der 15-Sekunden-Rücksprung-Taste, den der Podcast-Player hat. Wenn mich ein Stück im Radio langweilt, zuckt meine Hand nach der Skip-Taste, um die Heulsuse zu überspringen. Ach herrjeh, kommt dann die Erinnerung, geht ja nicht, ich bin ja grad im Dampfmedium.
Technisch ist das Personalisieren des Programmablaufs in gewissen Grenzen problemlos möglich. Dafür muss die Übertragung vom Broadcasting — alle kriegen dasselbe zu hören — auf Streaming umgestellt sein. Oder das Wiedergabegerät wechselt nur im Bedarfsfall schnell den Empfangsmodus von UKW auf online, James Cridland hat mit RadioDNS schon vor Jahren einen Standard vorgestellt, der dieses Umschalten ganz einfach ermöglicht. Genauso gibt es für den Rücksprung- oder Skipvorgang funktionierende Umsetzungen. Beim österreichischen Privatsender Kronehit kann man als Hörer am Smartphone Musiktitel überspringen, die Wortinhalte aus dem Live-Programm werden dann automatisch zeitversetzt in das individuelle Hörprogramm eingepasst. Kronehit hat dafür ein System entwickelt, das lineare Live-Sendung auf UKW und personalisiertes Online-Radio verbindet.
Dieses Modell ist keineswegs nur für HörerInnen interessant, auf die würde man nicht unbedingt hören. Ein viel mächtigerer Faktor ist die Werbeindustrie. Die interessiert sich immens für die Möglichkeit, Werbeclips personalisiert zu platzieren. Das sieht man auch schon beim Beispiel Kronehit. Will man die Smartphone-App nutzen, wird man höflich nach Geschlecht und Geburtstag gefragt, denn der Sender wolle einem ja angemessen gratulieren. Dahinter steht natürlich, dass Geschlecht und Alter wesentliche Grunddaten für die zielgenaue Adressierung von Werbekundschaften sind. Kann ich Werbung treffsicherer an mögliche Produktinteressenten ausliefern, ist diese Werbesekunde ein Vielfaches der Werbesekunde im linearen Radio wert. Diese Möglichkeit lassen sich weder Werbetreibende noch Sender entgehen. Personalisiertes Radio kommt.
Das sagt auch der Großteil der knapp vierzig TeilnehmerInnen einer wissenschaftlichen Befragung von hochrangigen Experten und Entscheidern aus fünf europäischen Ländern. Personalisierte und on-demand-Inhalte werden demnach innerhalb der nächsten zehn Jahre genauso wichtig werden wie lineares Live-Radio.
Dabei ist nicht von einem Entweder-Oder auszugehen. Lineares und personalisiertes Radio werden sich nach Einschätzung der Experten gegenseitig ergänzen. Ein Blick in die Mediengeschichte macht das plausibel: Die allerwenigsten Medien verschwinden irgendwann ganz. Stattdessen diversifizieren sich immer neue Varianten von Medien heraus, die Artenvielfalt der Medien wächst stetig. Was einmal erfolgreich war, bleibt in den meisten Fällen bestehen, sofern es sich wenigstens ein Stück weit an die veränderte Umwelt anpassen kann.
Für die Liebhaber des klassischen Radioprogramms gibt es mindestens drei Gründe, an die Koexistenz eines linearen Radios zu glauben, auch in Zeiten umfangreicher Personalisierung.
Einer ist der verbreitete Eindruck eines parapersönlichen Kontakts mit den Moderatoren. Ich mache allein im dämmrigen Küchenlicht den Abwasch, aber das Radio klingt nach Menschen, die mir ähnlich sind, nach Zuversicht und Aufgehobensein. Und weil die Moderatoren immer wieder auch Hörer einzeln ansprechen oder mit ihnen telefonieren, entsteht oft auch das Gefühl eines gemeinschaftlichen Medien-Erlebnisses mit anderen Hörern. Im Netz gibt es das auch, aber in der Regel nicht live, und beim Abwaschen, Autofahren und Zähneputzen kann man Radio einfach leichter laufenlassen als Netzinhalte. James Cridland empfiehlt den Radioverantwortlichen deshalb, dass sie Sender auf Radiogeräte und Content auf Kopfhörer bringen sollen: »I suggest that radio is better looking to get stations onto speakers, but content onto headphones - that headphones are better delivering short-form disaggregated content, not linear radio.«
Ein zweiter Grund, vielleicht die wesentliche Daseinsberechtigung des teuren öffentlich-rechtlichen Systems, ist die gesellschaftlich garantierte Verlässlichkeit, dass die Inhalte irgendwie ausgewogen sind, Meinungsvielfalt zulassen, Minderheiten berücksichtigen, dass sie bilden und hochwertige Kulturgüter verbreiten.
Der dritte Grund ist der Interessanteste. Er bezieht sich unmittelbar auf die Linearität des Mediums: Nur wenn ich mich als Nutzer auch mal offen zeige für ungesuchte Inhalte, für Themen, die mir nichts sagen, kann ich meinen Horizont erweitern, komme ich über meine Filterblase hinaus, die mir im Netz nur das zeigt, was mich interessiert und was ich somit eh schon kenne. Im Englischen gibt es dafür das schöne Wort ›Serendipity‹. Es bezeichnet das Phänomen des ungesuchten Fundes, das Finden wertvoller Dinge ohne nach ihnen gesucht zu haben, oft ohne von ihrer Existenz gewusst zu haben. Früher trat das gern beim Blättern in Enzyklopädien auf: die ungesuchte Bisexualität fesselt vielleicht viel mehr als der gesuchte Bismarck. Das Radio kann das manchmal auch ganz hervorragend.
Eine Frage, die sich trotzdem stellt, ist, ob wir das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem dazu noch brauchen. Oder anders gefragt: Kann ein wasserköpfiges Monster wie die ARD kreativ und relevant beim neuen Spiel der personalisierten Medien mitwirken?
Jan Böhmermann sagt nein. Die machtvollen Apparate von ARD und ZDF mit ihrer immensen Anhäufung von Kompetenz hätten keine Ideen und vor allem keinen Mut, den Schritt ins Netz zu machen. Die Bereitschaft, Neues zuzulassen und auch mal zu scheitern, gehe gegen Null. Er finde es bedenklich, dass die Neue Rechte die sozialen Medien viel schneller verstanden habe als die Leute bei den öffentlich-rechtlichen, die geradeaus denken können.
Oder schauen wir auf die Frage, wie man mit radiophonen Formen spielen kann, um sie für zeitgemäßes autonomes Hören attraktiv zu machen. In den USA sehen wir, wie eine Community kreativer Podcaster das Radiomachen revolutioniert. Hunderte thematisch ausdifferenzierte Podcasts wie zum Beispiel Radiolab, The Heart, 99% Invisible oder das viel diskutierte Serial sprechen den sogenannten Long Tail, die vielen kleinen Spezialinteressen von Menschen an, die beim Broadcasting immer hinten runter gefallen sind.
Das kann eine öffentlich-rechtliche Anstalt aus ihren festen Personalstrukturen heraus vermutlich niemals leisten. Dagegen spricht, dass ein ›Sendeplatz‹ sich normalerweise nicht einfach über viele Folgen einer eigenwilligen Thematik wie der Liebe zwischen Frauen oder dem unsichtbaren Design in unserer Umwelt widmen kann: zu speziell, damit erreichen wir nicht unsere Hörerzahlen. Dagegen spricht aber auch, dass Radio normalerweise nicht so eigenwillig erzählt sein darf, wie es sich die US-Podcaster mit großem Erfolg trauen.
Meines Erachtens besteht ein fundamentaler und unauflösbarer Unterschied zwischen dem Funktionieren einer unabhängigen Podcast-Landschaft und einer öffentlich-rechtlichen Anstalt. Überholen ohne einzuholen wird der ARD nicht gelingen, denn als geschlossenes Gebäude hat sie systemische Nachteile gegenüber der offenen Landschaft der Podcaster. Vergleichbar dem Unterschied zwischen offener und geschlossener Software, sichert sich das geschlossene System die Kontrolle über Inhalte und Systemstruktur, während das offene System jeder und jedem die Möglichkeit bietet, anzudocken, das System um Inhalte und Strukturen zu erweitern. Würden die Öffentlich-rechtlichen die Podcaster schlucken, wäre sofort deren wesentlicher Vorteil, die Offenheit verloren. Die Zielstellung muss deswegen strukturell eine andere sein. Es liefe vielleicht darauf hinaus, dass öffentlich-rechtliche Sender auf Augenhöhe mit der freien Podcaster-Szene oder anderen Kreativpools kooperieren würden, gegen eine Kirsche aus der Gebührentorte, versteht sich. Solche Öffnungsszenarien zu entwickeln, im Böhmermannschen Sinn ergebnisoffen und mutig, erscheint mir unumgänglich, will das Radio nicht geriatrisch werden.
Das Radio hat weitere Potentiale. Es besitzt zum Beispiel immense Archive, das so genannte Programmvermögen, das ja eigentlich auch allen Gebührenzahlern gehören sollte, denn sie haben die Herstellung des Programms seinerzeit bezahlt. Dass diese Inhalte heute noch nicht zugänglich sind, liegt daran, dass die Rechte geklärt werden müssten, jede einzelne kreative Mitwirkende einer Sendung müsste um Zustimmung für eine Nutzung aus dem Archiv heraus gebeten werden, und das ist zu aufwändig, kostet zuviel Geld.
Sagt man bei ARD und ZDF, weil kaum einer so recht Lust hat, kreativ nach alternativen Wegen zu suchen — mit wenigen Ausnahmen, die weit davon entfernt sind, sich als Standard durchzusetzen. Kann man nicht zum Beispiel über Mikrobezahlung nachdenken? Der Hörspielmacher Paul Plamper hat ein eigenes Vertriebssystem für seine Stücke ins Netz gesetzt, weil er weiß, dass sie in den Kellern der ARD vergammeln würden. Gibt es wirklich keine Möglichkeit, verwaiste Werke, deren Urheber nicht aufzutreiben sind, per Gesetz solange zur Nutzung zu öffnen, bis sich Urheber oder Rechtsnachfolger von sich aus melden?
Radikale Schritte, aber ein Riesenarchiv kulturell bedeutsamer Inhalte, auf das die Gesellschaft keinen Zugriff hat, obwohl sie sie finanziert hat, ist heute zu anachronistisch. Wenn ich bei Spotify für 10€ im Monat Zugriff auf 20 Millionen Musiktitel habe, wieso bekomme ich für monatlich 20€ Rundfunkgebühren nicht wenigstens ein paar Tausend Hörspiele, Features, Serien etc. aus der Hörfunkgeschichte geboten, wenn mich doch das Live-Programm oft nicht interessiert? Dafür brauchen wir Lösungen, und nicht erst postmedial: nachdem die ARD irrelevant geworden ist.
Golo Föllmer